Erde brennt - Erdsystem bricht

Christian Zeller

 Christian Zeller
18. Oktober 2021

Teil 1 der Artikelreihe Ökosozialistische Strategien im Anthropozän

Mit diesem Beitrag dokumentiere ich die gesellschaftliche Brisanz der Brüche im Erdsystem und der Erderhitzung. Ich verfolge damit das Ziel, der chronischen Unterschätzung oder gar Ignoranz der Sachlage, die auch in fortschrittlichen sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und linken Parteien anzutreffen ist, entgegenzuwirken. Der Wahlausgang in Deutschland bestätigt deutlich und tragisch, dass die bislang und künftig regierenden Parteien auf die Erderhitzung bloß mit technischen Maßnahmen und neuen wirtschaftlichen Anreizen reagieren. Damit führen sie die Gesellschaft in die Irre und in eine Verkettung von Katastrophen. Denn die Veränderungen des Erdsystems werden schon bald die Grundlagen der bisherigen Politik und gesellschaftlichen Debatten wegreißen.

Die neue Normalität

Die Hitzewellen im Nordwesten der USA, im Westen Kanadas, in Sibirien und im Mittelmeerraum im Sommer 2021 waren extrem, allerdings keineswegs unerwartet. Die gegenwärtige Jahrhundertdürre im Südwesten der USA, die jüngsten Überschwemmungen in Deutschland und China, die Brände in Sibirien, die Verwüstungen und damit verbunden der Tod vieler Menschen in ganz unterschiedlichen Regionen der Welt machen abstrakte Befürchtungen zur konkreten Erfahrung. Die Wetterextreme bestätigen, wovor Klimaforscher:innen seit vielen Jahrzehnen warnen. Sie sind Anzeichen dafür, dass sich das Erdsystem abrupt massiv verändert. Noch stärker als bei der Coronapandemie verdrängen Regierungen und Vertreter:innen des Kapitals, aber auch die Gewerkschaften sowie breite Teile der Bevölkerung, die wissenschaftlichen Erkenntnisse. Doch Wetterextreme sind die neue Normalität. Extremwetter tritt mittlerweile vier bis fünf Mal so häufig auf wie noch in den 1970er Jahren und richtet dabei ein Siebenfaches der Schäden an.[i]

 

Der am 9. August publizierte Entwurf des 6. Sachstandsberichts der Arbeitsgruppe I des IPCC (International Panel on Climate Change)[iv] zu den physischen Grundlagen der sich rasch beschleunigenden Erderhitzung ist ein nüchterner und technisch abgefasster Warnruf. Kein anderer Bericht des IPCC hat die Befürchtungen vor den Konsequenzen der unausweichlichen physikalischen Naturgesetze derart klar zum Ausdruck gebracht. Die hier zusammengetragenen und verdichteten wissenschaftlichen Befunde sind eindeutig. Die Menschen haben so stark in das Erdsystem und das Klima eingegriffen, dass sich irreversible Veränderungen ergeben haben. Diese werden nun rasch immer deutlicher spürbar. Der Bericht der Arbeitsgruppe I benennt hierbei keine gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Implikationen. Das bleibt den Berichten der Arbeitsgruppen II und III vorbehalten, deren Publikation für Februar und Oktober 2022 vorgesehen ist. Doch unter den beteiligten Wissenschaftler:innen macht sich die Sorge breit, dass die Berichte vor ihrer Veröffentlichung politisch gesäubert werden. Darum wurden Teile des Berichtentwurfs der Arbeitsgruppe III bereits vorab einzelnen Medien zugespielt. Bemerkenswert ist, dass die Autor:innen das kapitalistische Wachstum, die enorme soziale Ungleichheit und riesige Verantwortung der Reichsten für die Treibhausgasemissionen als zentrales Probleme adressieren.[v]

Die IPCC-Berichte präsentieren gewissermaßen mittlere Werte des wissenschaftlichen Stands. Vor allem ihre Kurzfassungen für die policy makers sind allerdings eher politische als wissenschaftliche Dokumente. Wissenschaftler:innen und Vertreter:innen der Regierungen ringen im Hintergrund hart um die veröffentlichten Aussagen. Demnach ist der Inhalt dieser Berichte auch Ausdruck politischer Kräfteverhältnisse in und zwischen Regierungen. Die IPCC-Berichte tendierten in der Vergangenheit dazu, die reale Entwicklung eher zu unterschätzen. Es gibt zahlreiche Studien, die zu deutlich alarmierenderen Befunden über die Erderhitzung kommen.

Die Erderhitzung, das Überschreiten von Kipppunkten des Erdsystems und die damit verbundenen abrupten Veränderungen des Erdsystems bedeuten, dass wir in eine Phase voller Wendungen und Brüche treten. Die Zeit verdichtet sich. In rascher Abfolge verändern sich die Bedingungen des Alltagslebens für Milliarden von Menschen mit schwerwiegenden Konsequenzen. Die Grundlagen für bislang diskutierte gesellschaftspolitische Konzepte und wirtschaftspolitische Rezepte brechen weg. Die bisher über Jahrtausende stabile physische Welt verändert sich nunmehr schneller als die gesellschaftlichen und politischen Diskussionen über den scheinbar allmählichen „Klimawandel“. Die Debatten über eine sozial-ökologische Transformation und eine ökosozialistische Umwälzung der Gesellschaft müssen dringend diesen sich rasch verändernden Bedingungen Rechnung tragen. Die nötigen strategischen Schlussfolgerungen sind weitreichend.

Die Weltklimakonferenz vom 31. Oktober bis 12. November in Glasgow ist die letzte, die Beschlüsse fassen kann, die wirklich dazu dienen, die Erderhitzung auf 1,5° Celsius zu begrenzen. Dass dies auch wirklich passiert, ist hochgradig unwahrscheinlich. Die neue deutsche Regierung könnte sofort das erforderliche Programm zur Emissionsreduktion und zum industriellen Umbau beschließen und umsetzen – das ist ebenso unwahrscheinlich.

Gestützt auf den 6. Sachstandsbericht des IPCC zeige ich nun, wie sich das Klima bereits verändert hat. Ich skizziere einige Szenarien des IPCC und beschreibe kurz wesentliche klimatische Veränderungen der kommenden Jahrzehnte. Die Antworten der Regierungen und die „Netto Null“-Perspektive sind irreführend und gefährlich. Auf dieser Grundlage argumentiere ich im Fazit, dass die Klimagerechtigkeitsbewegung dringend eine Strategie entwickeln muss, die die Machtfrage nicht mehr professionellen Politdarsteller:innen der parlamentarischen Parteien überlässt, sondern zur Selbstaktivität und Selbstermächtigung der arbeitenden Bevölkerung anregt .

Das Klimasystem hat sich bereits verändert

 

Der 6. Sachstandsbericht des IPCC beschreibt ausführlich, wie sich das Klimasystem in wenigen Jahrzehnten bereits verändert hat. Ich gebe hier fünf Erkenntnisse auszugsweise wieder, um die erdgeschichtlichen Veränderungen zu verdeutlichen.

  • Im Jahr 2019 waren die atmosphärischen CO2-Konzentrationen höher als zu jedem anderen Zeitpunkt seit mindestens 2 Millionen Jahren (hohes Vertrauen), und die Konzentrationen von CH4 und N2O waren höher als zu jedem anderen Zeitpunkt seit mindestens 800.000 Jahren (sehr hohes Vertrauen).“[vi]

  • Die globale Oberflächentemperatur ist seit 1970 schneller gestiegen als in jedem anderen 50-Jahres-Zeitraum der letzten 2.000 Jahre (hohes Vertrauen).“ Gegenwärtig sind die durchschnittlichen globalen Oberflächentemperaturen rund 1,1° höher als in der vorindustriellen Zeit. Wir müssen mindestens in die Zwischeneiszeit vor 125.000 Jahren zurückblicken, um derart hohe durchschnittliche Temperaturen zu beobachten, wie wir sie gegenwärtig erleben.[vii]

  • Die Meereshöhe stieg im 20. Jahrhundert durchschnittlich um 20 Zentimeter und wird im 21. Jahrhundert weiter ansteigen – um rund 30 cm, sogar wenn die Emissionen rasch sinken: über einen halben Meter, wenn die Emissionen im bisherigen Maß voranschreiten. Diese Veränderungen werden viele Menschen in Küstengebieten, einschließlich den Bewohner:innen zahlreicher Megacitys, bereits in wenigen Jahren bis Jahrzehnten dazu zwingen, ihre Wohngebiete zu verlassen. Die Gefährdung von Küstenregionen ist umso relevanter, weil die Bevölkerung gerade in diesen überschwemmungsgefährdeten Regionen zwischen 2000 und 2015 deutlich überdurchschnittlich anstieg.[viii]

  • Die Gletscher in der Antarktis, in Grönland als auch in den Gebirgen sind in den letzten Jahrzehnten stark abgeschmolzen und werden weiter schmelzen. In den Alpen werden die meisten Gletscher nach einigen Jahrzehnten verschwunden sein.

  • Die Veränderungen geschehen räumlich ungleich. Nicht die konstruierten Durchschnittswerte, sondern die realen und räumlich spezifischen Prozesse sind für die sich abrupt verändernden Lebensbedingungen der Menschen relevant. Die zu erwartenden Veränderungen beim Muster der Monsunregen sowie spezifische Wirkungen auf die Biodiversität, Wüsten, tropische Wälder, Städte und andere Orte verlangen gerade aus einer emanzipatorischen und ökosozialistischen Sicht besondere Überlegungen.[ix] Wie können die besonders betroffenen Gesellschaften diese Herausforderungen solidarisch bewältigen?

Die jüngeren Klimaveränderungen zeigen allerdings, dass sich die realen Entwicklungen vielfach schneller vollziehen, als die IPCC-Berichte zuvor einschätzten. Beispielsweise kommen Studien zum Schluss, dass die mittlere Erderwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit bereits im Jahr 2020 auf 1,3° Celsius angestiegen ist. Der IPCC unterschätzte bislang eine alarmierende Tatsache. Die globale Erwärmung beschleunigt sich. Deshalb wird die durchschnittliche globale Erhitzung möglichweise bereits circa 2030 um 1,5° Celsius höher sein als in der vorindustriellen Zeit.[x] Selbst der IPCC konstatiert nun, dass die 20-jährige durchschnittliche Oberflächentemperatur die Marke von 1,5° Celsius Erwärmung in den frühen 2030er Jahren überschreiten wird. Damit wird die politische Schwelle des Pariser Klimaabkommens von 2015 früher als erwartet gerissen.[xi]Die Erwärmung ist vermutlich bereits dabei, Kipppunkte des Erdsystems zu überschreiten und damit selbstverstärkende Prozesse in Gang zu setzen. Daraus folgert eine Studie der Energy Watch Group, dass bereits bis 2030 die Treibhausgasemissionen vollständig beendet werden müssen, um den Pfad der Erhitzung zu stoppen.[xii] Wissenschaftler:innen der Scientist Rebellion fassen Studien zusammen, die zum Ergebnis kommen, dass mit einer Fortsetzung der bestehenden Politik die Erderhitzung am Ende dieses Jahrhunderts auf 4° Celsius ansteigen werde. Das würde dem Ende unserer Zivilisationen, so wie wir sie kennen, gleichkommen.[xiii]

Um mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent die Temperaturzunahme auf 1,5° zu begrenzen, darf die Welt noch 500 Gigatonnen CO2 ausstoßen, bei einer Wahrscheinlichkeit von 83 Prozent sind es nur noch 300 Gigatonnen.[xiv] Das gipfelt in einer absurden Vorstellung: Stieße die Welt weiterhin jährlich um die 40 Gigatonnen CO2 aus, müsste also bereits vor 2030 weltweit jede Maschine sofort abgestellt werden, die CO2 ausstößt.

Doch die reale Entwicklung läuft in die umgekehrte Entwicklung. Die CO2-Emissionen steigen weiterhin deutlich an. Gemäß den implementierten jüngsten nationalen Emissionsreduktionsplänen (nationally determined contributions) von 191 Ländern werden die jährlichen Treibhausgasemissionen ohne Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft auf 54,8 Gigatonnen CO₂-Äquivalente bis 2025 und 55.1 Gigatonnen bis 2030 ansteigen. Bis 2030 entspricht das einer Zunahme von 59,3 Prozent gegenüber 1990, von 16,3 Prozent gegenüber 2010 und von 5 Prozent gegenüber 2019.[xv] Die Maßnahmen der Regierungen legen in der Regel großes Gewicht auf den Ausbau erneuerbarer Energien und die Verbesserung der Energieeffizienz. Allerdings kündigten nur wenige Regierungen konkrete Maßnahmen zur Reduktion von Emissionen in der Industrie an.[xvi]

 

Szenarien

 

Der 6. Sachstandsbericht des IPCC[xvii] fasst den Prozess der künftigen Erderhitzung in fünf illustrativen sozioökonomischen Entwicklungspfaden (Shared Socioeconomic Pathways) zusammen. Er verdichtet die sozioökonomische Orientierung plakativ in die fünf Pfade SSP1 Sustainability, SSP2 Middle of the Road, SSP3 Regional Rivalry, SSP4 Inequality und SSP5 Fossil-fueled development. Diese werden im Bericht mit unterschiedlichen Werten für den Strahlungsantrieb (Maß für die Strahlungsbilanz der Erde, wobei die Treibhausgasemissionen eine wichtige Komponente sind) kombiniert, woraus sich unterschiedliche Szenarien ergeben. Fünf davon beschreibt der Sachstandsbericht. Die dargestellten Szenarien beginnen 2015 und erfassen Entwicklungspfade mit sehr hohen, hohen, mittleren, geringen und sehr geringen Treibhausgasemissionen.



Die Erkenntnis ist brutal und ernüchternd. Das Ziel der Pariser Klimakonferenz von 2015, die Erderhitzung auf 1,5° Celsius zu begrenzen, lässt sich im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse, die der IPCC akzeptiert, nicht mehr erreichen. Sogar, wenn sich die Regierungen bei der Weltklimakonferenz im kommenden November in Glasgow auf das Szenario mit den niedrigsten Emissionen (SSP1-1.9) einer schnellen und umfassenden Reduktion der Treibhausgasemissionen einigen würden – was als ausgeschlossen gilt –, befände sich die Welt weiterhin auf einem katastrophalen Pfad. Denn auch in diesem Szenario würde sich das Erdsystem schon in wenigen Jahrzehnten so stark und abrupt verändern, dass allen bisherigen Vorstellungen über eine sozial-ökologische Transformation im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise die Grundlagen entzogen werden.

Das mittlere Szenario (SSP 2-4.5) kommt der realen Entwicklung näher. Der IPCC bezeichnet es als ein no-additional climate-policy’ reference scenario. Dieses Szenario folgt einem „middle of the road”-Pfad (SSP2) und entspricht dem oberen Bereich der aggregierten Emissionsreduktionsplänen der Regierungen (nationally determined contributions, NDCs), die sie in Folge der Pariser Klimakonferenz 2015 unterbreiteten.[xviii] Dieses Szenario nimmt einen Emissionspeak etwa zwischen 2040 und 2050 an und sagt voraus, dass die Welt in den frühen 2030er Jahren die Schwelle von 1,5° Celsius und Mitte des Jahrhunderts jene von 2° Celsius Erderwärmung überschreiten wird. Zwischen 2080 und 2100 werden sich die globalen durchschnittlichen Oberflächentemperaturen mit großer Wahrscheinlichkeit um 2,7° Celsius (bei einer Bandbreite von 2,1 bis 3,5° Celsius) über der vorindustriellen Zeit erhitzen.[xix] Setzten die Regierungen ihre zugesagten, aber ungenügenden nationalen Emissionsreduktionspläne um, würde sich die Erwärmung weiter beschleunigen. Die Erde entwickelt sich zu einem heißen Planeten, dessen Erdsystem sich abrupt komplett verändern und bald Kipppunkte überschreiten würde. Die damit ausgelösten Prozesse würden schon in wenigen Jahrzehnten aus der Erde einen solchen heißen Planeten machen.

Die Erfahrung zeigt uns allerdings, dass die Regierungen nicht einmal ihre eigenen, obschon komplett ungenügenden, Pläne einhalten. Möglicherweise ist also sogar dieses mittlere Szenario zu „optimistisch“. Steigen die Emissionen im selben Maße wie gegenwärtig weiter (was die Szenarien SSP3-7.0 und SSP5-8.5 abbilden), kann sich die durchschnittliche Oberflächentemperatur bis Ende des Jahrhunderts bereits um 3,3 bis 5,7° Celsius erhitzen. Dies käme einem kompletten Zusammenbruch des Klimasystems gleich.

Das Szenario (SSP1-1.9) mit den niedrigsten Treibhausgasemissionen beschränkt die Erderwärmung bis zur Jahrhundertwende auf 1,5° Celsius, nachdem diese Schwelle zuvor allerdings bereits überschritten wurde.[xx] Bedenklich ist, dass sich die Emissionspfade, die die globale Erwärmung bis 2100 auf 1,5° bis 2° Celsius begrenzen, neben Emissionsreduktionen auch auf Technologien zur Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre (Carbon Dioxide Removal, CDR), die eine CO2-Abscheidung und -Speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS) sowie eine massive Ausweitung der Plantagenwirtschaft zur Herstellung von Energiepflanzen umfassen, stützen. Damit soll ab Mitte des Jahrhunderts eine negative Emissionsbilanz erreicht werden. Dieses Szenario beinhaltet, dass Mitte des Jahrhunderts jährlich 5 Gigatonnen CO2 (zum Vergleich: die USA emittierten 2019 rund 6,56 Gigatonnen CO2) und Ende des Jahrhunderts sogar 17 Gigatonnen CO2 der Atmosphäre entzogen werden.[xxi] Der IPCC-Bericht zitiert selbst breite Übersichtsstudien, die zum Ergebnis gekommen sind, dass CDR-Technologien bis 2050 im großen Maßstab nicht anwendbar sein werden.[xxii] Der IPCC modellierte dieses Niedrigemissionsszenario, um dem Ziel des Pariser Klimaabkommens entsprechend einen konkreten Pfad aufzuzeigen, der es erlaubt, die Erderwärmung gegen Ende des Jahrhunderts auf 1,5° Celsius zu begrenzen, obgleich diese Schwelle zwischenzeitlich übertroffen wird.[xxiii] Die Autor:innen halten dieses Szenario jedoch für unwahrscheinlich, da sie dieses auf unrealistische Annahmen und auf Technologien abstützen, deren massenhaften Einsatz sie selber für nicht wahrscheinlich und gefährlich halten.

Die negativen Emissionstechnologien sind hochgradig spekulativ. Sie erfordern gigantische Energiemengen, die allerdings CO2-neutral zu gewinnen sind. Alleine diese Lösung des Sachverhalts wird noch längere Zeit ein Rätsel bleiben. Es gibt erst wenige Pilotanlagen für kleine Mengen CO2. Es ist völlig ungewiss, inwiefern diese Technologien im großen Stil anwendbar sein und die gewünschte Wirkung erzielen werden. Dieses Szenario wäre auch mit einer enormen Ausweitung der Flächen für die industrielle Landwirtschaft verbunden. Bis neue Bäume soweit gewachsen sind, dass sie die gefällten ersetzen, vergehen Jahrzehnte.[xxiv] Die Ausweitung der industriellen Baumproduktion stünde vielerorts in direkter Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion und -versorgung und würde kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaften vernichten. Zu beachten ist, dass die Erderwärmung durch Dürren, Feuer und Insektenbefall die Kapazität von Wäldern vermindert, CO2 zu binden.[xxv] Die Propaganda der Regierungen für „Netto-Null“ kommt demnach einem großen Täuschungs- und Ablenkungsmanöver gleich.

Das Szenario SSP1-1.9 weist eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Niedrigemissions-Pfad P1 im Kurzbericht für die Policymakers und dem LED-Pfad (Niedrigenergienachfrage-Pfad in Kapitel 2) des sogenannten 1,5-Grad-Berichts des IPCC von 2018 auf. Dieser Pfad sieht mit einer Reduktion der CO2-Emssionen um 58 Prozent bis 2030 gegenüber 2010 allerdings noch eine Beschränkung der Erwärmung auf 1,5° Celsius mit einem nur geringen zweitweisen Überschreiten dieser Marke vor. Er schließt zwar den Einsatz von CSS und BECCS-Technologien (bioenergy with carbon capture and storage – Bioenergie mit CO2-Abscheidung und -Speicherung) aus, sieht allerdings eine weltweite Steigerung der Kernenergie um 59 Prozent bis 2030 und um gar 150 Prozent bis 2050 gegenüber 2010 vor.[xxvi] Es ist naheliegend, dass auch das Niedrigemissionsszenario SSP1-1.9 und das mittlere Szenario SSP2-4.5 einen massiven Ausbau der Kernenergie beinhalten. Schließen wir die Steigerung von Kernenergie und den Einsatz spekulativer CSS-Technologien aus, muss die Entfossilisierung der Gesellschaft logischerweise noch radikaler und schneller geschehen als dies sogar die „besten“ IPCC-Szenarien vorsehen. Die frühindustrialisierten und imperialistischen Länder müssten zudem gezwungen werden, ihrer ökologischen Schuld entsprechend ihre Gesellschaften noch schneller zu entfossilisieren und die Anstrengungen der postkolonialen Länder zu unterstützen, beispielsweise durch einen Erlass der Schulden, die durch die ewigen Zinszahlungen zu einem ständigen Finanzfluss zu den Finanzzentren führen. Diese Sachverhalte unterstreichen, wie umfassend der Umbau des gesamten weltweiten produktiven Systems sein muss, um die Erderhitzung auf 1,5° Celsius zu begrenzen.

Unabhängig davon, welches Szenario die reale Entwicklung am nächsten abbildet, sieht die nahe Zukunft ähnlich aus. Die Marke von 1,5 Grad Celsius wird bloß etwas früher oder später überschritten werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits in den kommenden zehn Jahren. Dieser Vorgang ist von unermesslicher erdgeschichtlicher Tragweite: Das letzte Mal, dass die globale Oberflächentemperatur um 2,5° Celsius oder mehr höher lag als 1850–1900, war vor über drei Millionen Jahren.[xxvii]

In Teil 2 der Reihe Ökosozialistische Strategien im Anthropozän wird der Autor zeigen, dass die Veränderungen des Klimasystems bereits in den kommenden Jahrzehnten die Lebensgrundlagen von Milliarden von Menschen untergraben oder gar zerstören werden.

Quellen und Anmerkungen

[i] WMO, 2021)

[ii] UNFCCC, 2021)

[iii] IPCC, 2018: 14)

[iv] IPCC, 2021)

[v] Juan Bordera / Fernando Prieto: El IPCC considera que el decrecimiento es clave para mitigar el cambio climático. Ctxt, 7. August 2021 https://ctxt.es/es/20210801/Politica/36900/IPCC-cambio-climatico-colapso-medioambiental-decrecimiento.htm, gesichtet 20. September 2021; Scientist Rebellion https://scientistrebellion.com/we-leaked-the-upcoming-ipcc-report/ gesichtet 20. September 2021

[vi] IPCC, 2021: SPM-9)

[vii] IPCC, 2021: SPM-9)

[viii] Crownhart 2021)

[ix] IPCC, 2021: TS-74ff)

[x] Xu, et al., 2018

[xi] IPCC, 2021: TS-27, 30

[xii] Fell und Traber, 2020: 5–7

[xiii] Scientist Rebellion (2021): The Science https://scientistrebellion.com/science/ (gesichtet am 20. September 2021

[xiv] IPCC, 2021: SPM-38, Table SPM.2

[xv] UNFCCC, 2021: 5, 14, 26, Figure 7

[xvi] UNFCCC, 2021: 7, 38

[xvii] IPCC, 2021: SPM-15

[xviii] IPCC, 2021: ch1-100, ch1-104; UNFCCC, 2021: 29

[xix] IPCC, 2021: SPM-16-17, Figure SPM.4; UNFCCC, 2021: 29, Figure 9

[xx] IPCC, 2021:TS22, Figure TS.6

[xxi] Temple, 2021, Statista https://www.statista.com/statistics/517376/us-greenhouse-gas-emissions/ (gesichtet am 26. September 2021)

[xxii] IPCC, 2021: 4-81–4-82

[xxiii] IPCC, 2021: ch1-103

[xxiv] Temple 2021

[xxv] (IPCC, 2021: SPM-41f)

[xxvi] (IPCC, 2018: 14, 131-134, 325)

[xxvii] „The last time global surface temperature was sustained at or above 2.5°C higher than 1850–1900 was over 3 million years ago (medium confiencence)” (IPCC, 2021: SPM-17).

Literatur

Crownhart, Casey (2021): New global map shows populations are growing faster in flood-prone areas. MIT Technology Review, August 4, 2021. https://www.technologyreview.com/2021/08/04/1030533/population-climate-flood-risk/ Zugriff: August 21, 2021.

Fell, Hans-Josef und Traber, Thure (2020): The path to climate neutrality by 2050 misses the Paris climate targets The rocky road to truthfulness in climate politics;EWG Policy Paper, December 2020, Energy Watch Group: Berlin, 12 S. https://www.energywatchgroup.org/the-path-to-climate-neutrality-by-2050-misses-the-paris-climate-targets/ Zugriff: 17. August 2021.

IPCC (2018): Global warming of 1.5°C. An IPCC Special Report on the impacts of global warming of 1.5°C above pre-industrial levels and related global greenhouse gas emission pathways, in the context of strengthening the global response to the threat of climate change, sustainable development, and efforts to eradicate poverty, V. Masson-Delmotte; P. Zhai; H. O. Pörtner; D. Roberts; J. Skea; P. R. Shukla; A. Pirani; W. Moufouma-Okia; C. Péan; R. Pidcock; S. Connors; J. B. R. Matthews; Y. Chen; X. Zhou; M. I. Gomis; E. Lonnoy; T. Maycock; M. Tignor und T. Waterfield, Intergovernmental Panel on Climate Change, Geneva, G. World Meteorological Organization: Genf, 616 S. https://www.ipcc.ch/sr15/download/; https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/sites/2/2019/06/SR15_Full_Report_High_Res.pdf Zugriff: 26. März 2020.

IPCC (2021): Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change[Masson-Delmotte, V., P. Zhai, A. Pirani, S. L. Connors, C. Péan, S. Berger, N. Caud, Y. Chen, L. Goldfarb, M. I. Gomis, M. Huang, K. Leitzell, E. Lonnoy, J.B.R. Matthews, T. K. Maycock, T. Waterfield, O. Yelekçi, R. Yu and B. Zhou (eds.): Cambridge University Press, 3948 S.

Temple, James (2021): The UN climate report pins hopes on carbon removal technologies that barely exist. MIT Technology Review, August 9, 2021. https://www.technologyreview.com/2021/08/09/1031450/the-un-climate-report-pins-hopes-on-carbon-removal-technologies-that-barely-exist/ Zugriff: August 21, 2021.

UNFCCC (2021): Nationally determined contributions under the Paris Agreement. Synthesis report by the secretariat. Conference of the Parties serving as the meeting of the Parties to the Paris Agreement Third session Glasgow, 31 October to 12 November 2021, 17 September 2021, United Nations Framework Convention on Climate Change: Bonn, 42 S. https://unfccc.int/news/full-ndc-synthesis-report-some-progress-but-still-a-big-concern; https://unfccc.int/sites/default/files/resource/cma2021_08_adv.pdf Zugriff: 18 September 2021.

WMO (2021): WMO Atlas of Mortality and Economic Losses from Weather, Climate  and  Water  Extremes  (1970–2019) 1 September 2021, World Meteorological Organization: Geneva, 90 S. https://library.wmo.int/doc_num.php?explnum_id=10769 Zugriff: 19 September 2021.

Xu, Y.; Ramanathan, V. und Victor, D. G. (2018): Global warming will happen faster than we think. Nature 564 (7734) Dec, S. 30-32. https://www.nature.com/articles/d41586-018-07586-5