Lohnabhängige wollen die Produktion umstellen – Das Beispiel Lucas Aerospace 1976

Kai Hasse

Der ökologisch notwendige Umbau des heutigen Auto-Individualverkehrs oder der giftige Chemiebranche wirft viele Fragen auf: Wie kann die Produktionsumstellung erreicht werden? Welche alternativen Produkte können z.B. mit den Maschinen und dem Know-how der Autoindustrie hergestellt werden? Wie können Mehrheiten für den Umbau gewonnen werden? Und welche Erfahrungen existieren?

Eine der ersten Auseinandersetzungen um eine Produktions- Umstellung gab es in den 70er Jahren bei dem britischen Rüstungsunternehmen Lucas Aerospace. In dem Unternehmen arbeiteten zu den Zeitpunkt rund 15.000 Beschäftigte. In dem Konzern gab es bereits vorher zahlreiche Konflikte um Rationalisierungen. Eine neue Phase begann, als das Management van Lucas Aerospace 1974 plante, 4000 Arbeiterinnen zu entlassen. Die Belegschaft wandte sich daraufhin an die Labour-Party, die gerade die Wahlen gewonnen hatte und bat um eine Verstaatlichung des Unternehmens. Wie nicht anders zu erwarten, wurde das von der neuen sozialdemokratischen Labourregierung abgelehnt. Das Shop-Stewardkomitee des Unternehmens, das am ehesten mit einem gewerkschaftlichen Vertrauensleutekörper in Deutschland verglichen werden Kann, beschloss daraufhin etwas ganz Neues. Im Januar 1975 begannen sie, einen Plan für eine alternative Produktion zu entwickeln. Mike Cooley, der Chefkonstrukteur des Unternehmens, der gleichzeitig Vorsitzender der Shop-Stewards war, begründete das damit, dass eine „erschreckende Lücke zwischen dem, was die Technologie für die Gesellschaft leisten könnte und dem was sie tatsächlich leistete“ bestand. Er verwies darauf, dass zwar ein superschnelles Flugzeug wie die Concorde gebaut wird, aber gleichzeitig fehlen einfache Heizungen in vielen Häusern in London. Er verwies auch auf „die tragische Verschwendung der Gesellschaft an Geschicklichkeit, Einfallsreichtum, Energie, Kreativität und Enthusiasmus ihrer gewöhnlichen Leute.“ Ein Millionenheer von Arbeitslosen könne seine Fähigkeiten nicht nutzen, während zugleich z.B. Fernheizungssysteme, Wohnungen und Transportmittel fehlen würden.

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„Die gewerkschaftlichen Vertrauensleute (Shop-Stewards) des Unternehmens beschlossen etwas ganz Neues. Im Januar 1975 begannen sie, einen Plan für eine alternative Produktion zu entwickeln. Der Gewerkschafter Mike Cooley, der Chefkonstrukteur des Unternehmens, begründete das damit, dass eine „erschreckende Lücke zwischen dem, was die Technologie für die Gesellschaft leisten könnte und dem was sie tatsächlich leistete“ bestand. Er verwies auch auf „die tragische Verschwendung der Gesellschaft an Geschicklichkeit, Einfallsreichtum, Energie, Kreativität und Enthusiasmus ihrer gewöhnlichen Leute.“

Praktisch kam es im Unternehmen zu Versammlungen, die die gesamte Belegschaft in die Konversionsdiskussion miteinbezogen. Ingenieure, Technikerinnen und Facharbeiterinnen setzten sich zusammen und entwickelten neue Produktideen. Sie fertigten während der Arbeitszeit Komponenten von Prototypen und testeten sie danach. All dies geschah, ohne dass das Unternehmens-Management etwas davon mitbekam. Nach rund einem Jahr hatte das betriebliche Shop Steward Comitee insgesamt 150 Produkte entwickelt, die sie im Januar 1976 zunächst der Konzernleitung und dann der Öffentlichkeit präsentierten [Wuh07]. Zu den sehr detailliert entwickelten Ideen gehörte u.a. ein tragbares Dialysegerät, dass es Mitte der 70er Jahre noch nicht gab. Weiterhin legten sie konkrete Pläne zu tragbaren Defibriltatoren für die Sofortversorgung von Patienten mit akutem Herzinfarkt vor. Heute gibt es in jedem Krankenhaus und in vielen Betrieben solche Geräte, aber damals war es vollkommen neu. Weitere Systeme, die entwickelt wurden, waren Wärmetauscher, Endoskope, Ultraschallgeräte für die Krankheitsdiagnose oder auch radargestützte Sichthilfen für Blinde. Heute sind dies durchaus bekannte Geräte, aber vor 40 Jahren waren das wirklich revolutionäre und weitsichtige Ideen. Die Frage stellt sich, wie die Beschäftigten von Lucas Aerospace derartig fortschrittliche Systeme entwickeln konnten. Die Erklärung ist, dass sie in einem Unternehmen arbeiteten, wo sie tagtäglich lernten mit Hochtechnologien umzugehen. Dieses Wissen konnten sie dann in der Konversionsdebatte nutzen. Mike Cooley erinnerte sich rückblickend an die Reaktion der Unternehmensleitung: „Das Management reagierte schockiert. Da trat ihnen plötzlich eine Belegschaft gegenüber, die ganz andere Güter herstellen wollte.“ Und dies waren zivile Güter, also nicht die Rüstungsproduktion für die Lucas Aerospace als Unternehmen stand. Die von den Lucas-Gewerkschafterinnen vorgeschlagene Aneignung der Arbeitsinhalte stellte nicht nur die Kompetenz des Managements in Frage, sondern sie forderten de facto auch eine Kontrolle über das Unternehmen. Bedeutsam war auch, dass sie anders als die meisten damaligen linken Strömungen auch eine Kritik der technologischen Entwicklung formulierten. Die Konzernleitung reagierte arrogant und kompromisslos. Sie lies die Shop Stewards wissen, dass sich das Unternehmen „auch künftig auf die traditionellen Geschäftsbereiche Luftfahrtsysteme und Komponenten für die Verteidigungsindustrie konzentrieren“ wolle. Sie lehnten jedes weitere Gespräch ab. Die Öffentlichkeit reagierte anders. Die Lucas-Shop Stewards wurden zu zahllosen Gewerkschafts-Seminaren und Konferenzen in Europa und Nordamerika eingeladen. Sie beeinflussten damit erheblich die damalige gewerkschaftliche Debatte. 1978 billigte ein Labour-Parteitag den Lucas Plan. Die Labour-Regierung ignorierte ihn jedoch. Mike Cooley führte aus.“ Die Politiker haben immer nur mit den Kosten argumentiert: Das können wir uns nicht leisten. Aber keiner hat sich gefragt, wie viel die Gesellschaft für Arbeitslosengeld, Steuerausfall, soziales Elend bezahlen muss, wenn wir solche Konzepte nicht umsetzen.“

Mike Cooley schreibt rückblickend: „Wir sahen ein, dass die Kampfmoral eines Beschäftigten sehr schnell abnimmt, wenn er bemerkt, dass die Gesellschaft, aus welchen Gründen auch immer, die Produkte, die er herstellt, nicht haben will. Wir dachten uns deshalb eine Kampagne für das Recht aus, an gesellschaftlich nützlichen Produkten zu arbeiten.“

Die Auseinandersetzung bei Lucas Aerospace hatte auch einen erheblichen Einfluss auf innerbetriebliche Konversionsbewegungen in Deutschland. So bei VEW/MB in Bremen (Vereinigte Flugtechnische Werke, Teil des Luftfahrtkonzerns Messerschmitt-BöIkow-Blohm) oder bei der Howaldtswerke-Deutsche Werft AG in Hamburg. Gleiches geschah bei der Blohm und Voss AG in Hamburg oder bei der AEG in Nürnberg. Zusammengenommen bildeten sich damals über 40 Arbeitskreise Alternative Produktion [Röt17]. In den folgenden Jahrzehnten schien diese Bewegung vergessen zu sein. Doch als infolge der Finanzkrise 2008/09 der Welthandel massiv einbrach und auch die exportorientierte Industrie in Deutschland in eine tiefe Krise stürzte, wurde vorübergehend die alte Konversionsdebatte wieder aufgenommen. Hans-Jürgen Urban, Mitglied des Bundesvorstands der IG Metall, sprach in einem Interview mit der Sozialistischen Zeitung in 2009 davon, dass in den Krise bestimmte Betriebe aufgrund ihres Spezialisierungsgrades kaum überleben könnten. In solchen Fällen müsse „im Rahmen einer ökologischen Umbaustrategie über ganz andere Produkte und eine ganz andere Art des Produzierens nachgedacht werden.“ Er betonte, dass dies für die betrieblichen Sanierungsfälle eine forcierte Konversionsstrategie“ bedeute. [Röt17]. Es gab dazu mehrere Initiativen, so in Itzehoe oder in Esslingen. Sie versandeten aber rasch, als 2010 eine neue wirtschaftliche Aufwärtskonjunktur einsetzte [Röt17].

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Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus den bisherigen Erfahrungen mit Konversionsdebatten? Erst einmal kann man festhalten, dass sich die Belegschaften keineswegs borniert an die spezifischen Produktpaletten ihrer Unternehmens klammern. Dies widerspricht der Meinung, die oftmals von außerbetrieblichen Aktivisten gepflegt wird. Zweitens entfaltet sich eine derartige Debatte vor allem dann, wenn Unternehmen in die Krise geraten. Dies ist in der Zukunft eine für die deutsche Autoindustrie nicht unwahrscheinliche Entwicklung. Drittens zeigt das Beispiel von Lucas Aerospace, dass ein überzeugender, konkreter Umbauplan eine große Kraft entfalten kann. Dies sah auch Mike Cooley so. Er schreibt rückblickend: „Wir sahen ein, dass die Kampfmoral eines Beschäftigten sehr schnell abnimmt, wenn er bemerkt, dass die Gesellschaft, aus welchen Gründen auch immer, die Produkte, die er herstellt, nicht haben will. Wir dachten uns deshalb eine Kampagne für das Recht aus, an gesellschaftlich nützlichen Produkten zu arbeiten.“ [Coo80].

Literatur:

[C0080]: Mike Cooley, 1980, S.195, Deutsch: Produkte für das Leben statt Waffen für den Tod: Arbeitnehmerstrategien für eine andere Produktion: Das Beispiel Lucas Aerospace, Pocket Books, 1982

[Röt17]: Bernd Röttger: Rüstungskonversion und alternative Produktion -Modelle für einen demokratisch-ökologischen Umbau der Autoindustrie, Impulsvortrag im Gesprächskreis Zukunft der Automobilindustrie der Rosa Luxemburg Stiftung Niedersachsen, 10.2. 2017, Wolfsburg

[Wuh07]: Pit Wuhrer: „Sie planten die bessere Zukunft“, WOZ, Nr. 07/2007, 15.02.2007

Insbesondere sei an dieser Stelle auch auf die sehr gute Internetseite von Pit Wuhrer verwiesen: https://www.pit-wuhrer.de/kapital/ka_07_02_15_lucas.html