Entzauberte Union. Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist.

Hans-Jürgen Kleine

Der Rezensent, Hans-Jürgen Kleine, ist ein langjähriges und aktives Mitglied von Attac. Er hat sich den Sammelband von Attac Österreich vorgenommen und ihn umfassend diskutiert. Es geht dabei um die Politik und den Aufbau der EU. Er schreibt, dass dies ein Konstrukt sei, dass unser Leben und unsere Politik beeinflusst. Deswegen sei die EU es wert, sich damit intensiv auseinanderzusetzen.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:State_of_the_EU_MEPs_debate_measures_to_improve_Europe_%2850349453772%29.jpg, Source: European Parliament

Rezension des Sammelbandes von Attac-Österreich (Hrsg.). Zweite Aufl. Wien, 2017: Mandelbaum
[Reihe Kritik & Utopie]. 271 S. ISBN 978-3-85476-669-8
1. Worum geht es? Was ist der Stoff?

Sammelbände könnten bisweilen den Verdacht erregen, inkonsistentes Stückwert zu sein, vielleicht, weil sich niemand fand oder sich die Zeit genommen hat, ein brisantes Thema integral und mit wissenschaftlichem Anspruch in einer erschöpfenden Monografie zu bearbeiten. Gerade zum komplexen Thema ‚Europäische Union‘ fehlt es in der bundesdeutschen Linken an fundiertem Material wie auch an Debatten zur Entstehungsgeschichte, Entwicklung, Struktur, Ausrichtung und inneren Verfasstheit jener staatsähnlichen, aber eben nicht einen (Bundes-)Staat konstituierenden und komplexen Konstruktion namens „Europäische Union“; ein Gebilde, das unser tägliches Leben
und unsere Arbeitsbedingungen entscheidend prägt. Und das uns möglicherweise um unsere Zukunft bringt, sollte es nicht gelingen, sich aus ihrer Marktlogik, ihrem perpetuierten Kurs auf Wirtschaftswachstum und der Funktionsweise zu befreien, auf denen sie beruht und mit der sie ihre globale Macht zu befestigen sucht.
Die o.g. Kollektivarbeit bietet jedoch ein überraschend breites Spektrum von Analysen, Konsequenzen und Strategien zu genau jenen Themen der EU-Politik, auf die sich die Linke konzentrieren muss, wenn aus ihrer Kritik eine grundlegende gesellschaftliche und ökonomische
Veränderung oder Überwindung der „Union“ erwachsen soll; sei es als Radikalreform, sei es als Anschaffung dieses imperialistischen Staatengebildes (Werner Rügemer, Imperium EU, Köln, 2020) zwecks Verwirklichung des guten Lebens für alle Europäer*innen. Es sind dies die multiplen Sachfelder Agrarpolitik, Finanzmarktpolitik, Flüchtlingspolitik, Geldpolitik, Gleichstellungspolitik, Handelspolitik, Lohnpolitik, Militärpolitik, Sozialpolitik, Steuerpolitik, Umwelt- und Klimapolitik sowie Wirtschaftspolitik.

Dem analytischen Hauptteil vorangestellt wird – methodisch gut angelegt – eingangs ein Abriss zur Geschichte der EU, der aufzeigt, wie sich von den Römischen Verträgen (1957) bis zum Vertrag von Maastricht (1992) die neoliberale Integration schrittweise durchsetzt und verfestigt – der Finanzkrise (2008) zum Trotz; auch die schon in den 1970-ern aufgetretenen Wirtschaftskrisen (Ölpreisschock) und das zurückgehende Wirtschaftswachstums seit den 1980-er Jahren haben den ‚Tanker“ EU nicht zum Sinken gebracht, wohl aber instabil gemacht. Auch die Flüchtlingsbewegung seit 2015 hat zu keiner Erosion der neoliberalen Verfasstheit der EU geführt. Neue verschärfte Regeln (Fiskalpakt)
kamen außer dem hinzu und wurden sogar ins deutsche Grundgesetz gemeißelt.
In der Struktur analysieren zunächst achtundzwanzig Autor*innen voneinander getrennt jeweils eines der obigen Felder, bisweilen im Duo, Trio, Quartett und selbst im Quintett. Ihr Vorteil ist, dass sie sich offensichtlich aus fachlich verwandten Kontexten und Diskussionszusammenhängen kennen. Mehrere von ihnen forschen oder lehren an der Wirtschaftsuniversität Wien bzw. Wiener
Universitäten als Ökonom*in, Friedensforscher*in, Politolog*in, Soziolog*in; andere entstammen bekannten NGOs und sozialen Bewegungen wie Attac-Österreich, Global Justice Now, Via Campesina oder der Klimagerechtigkeitsbewegung. Das sorgt dafür, dass der rote Faden des Buchs gewahrt bleibt, auch wenn an einigen Stellen etwas störende inhaltliche Redundanzen auffallen. Ein kompetentes Endlektorat hätte hier vermutlich Abhilfe schaffen können.
Im zweiten Teil ziehen die Verfasser*innen Schlussfolgerungen aus dem zuvor Dargestellten, indem sie verschiedenen gängigen „Erzählungen“ auf den Grund gehen, die die EU-Debatte prägen. So nehmen sie sich etwa das Bild vor, wonach wir „nur mit der EU“ die Globalisierung in unserem Sinne gestalten können. Oder: Die EU sei „ein Friedensprojekt“, ihr Ziel sei ein „soziales Europa“. Es fehlt auch nicht der Widerspruch zu der sich hartnäckig haltenden Behauptung vieler EU-Apologet*innen, die EU bringe „Wohlstand für alle“ und stelle sogar „die Überwindung des Nationalismus in Europa dar“.

Einen spannenden Absatz liefert die Diskussion zwischen der Soziologin Lisa Mittendrein und Lukas Oberndorfer über die zentrale These, derzufolge eine grundlegende EU-Reform de facto unmöglich ist. Beide ziehen für ihre Beweisführung die konkreten Erfahrungen aus der Griechenland-Krise heran, also dem Scheitern von Syriza am hartnäckigen Widerstand der herrschenden EU-Institutionen (EZB und EU-Kommission, unterstützt vom IWF) heran. Selbst schwerste Erschütterungen wie die brutale Kürzungspolitik im Sozialbereich und der Altersversorgung sowie als Antwort darauf die massenhaften Proteste der griechischen Bevölkerung hätten nicht zu einem Bruch mit der neoliberalen Ausrichtung der EU geführt. Allerdings sei die Niederlage von Syriza nicht vom Himmel gefallen und die Regierung Tsipras keineswegs alternativlos gewesen; sondern das Scheitern beruhe auf fatalen Fehleinschätzungen, denen auch der mitten im Clinch mit der EU
zurückgetretene Finanzminister Yannis Varoufakis erlegen sei.

Zuguterletzt fehlt auch nicht ein Kapitel über die von der Linken einzuschlagenden Strategien und ein Ausblick von zehn konkreten  „Vorschlägen“, wie die versteinerten Verhältnisse in der EU wirksam zum Tanzen gebracht werden könnten. Herausragendes Stichwort in dieser Hinsicht sind der „strategische Ungehorsam“. Vorgeschlagen wird, Lehren aus dem europaweiten Kampf gegen die Freihandelsverträge TTIP und CETA zu ziehen und neue Formen praktizierter internationaler Zusammenarbeit auszuprobieren. Schließlich sehen einige Verfasser*innen in der neuen sozialen Bewegung des sog. Munizipalismus, die europäische Städte als „Orte des Experimentierens“ für ein gutes kommunales Leben für sich entdeckt hat, als emanzipatorische Möglichkeit. Als Beispiele werden die katalanische Hauptstadt Barcelona und die 15M-Bewegung in Spanien (2011) herangezogen, aber auch die „Sanctuary Cities“ in den USA als sog. Städte der Zuflucht. Ob allerdings die Kommunen einen wirklichen Hebel gegen die neoliberale Ausrichtung der EU-Institutionen darstellen können, ist aus Sicht des Rezensenten zumindest fraglich. Denn ob die Gemeinden als unterste Ebene der Staaten tatsächlich das Subsidiaritätsprinzip befolgen und sich dem Druck der europapolitischen und bundespolitischen Vorgaben bewusst entziehen können, oder ob sie im bürgerlichen Staat (in einer Klassengesellschaft!) als letzte Vollstreckerinnen höherstaatlicher Gewalt fungieren, hängt allein von den politischen Kräften ab, die die jeweilige Kommune dominieren. Solange bürgerliche Parteien der Mitte oder die extreme Rechte vor Ort Wahlen gewinnen, was in der übergroßen Mehrheit der europäischen Kommunen der Fall sein dürfte, kann der „Munizipalismus“ nicht zur ernsten Bedrohung des kapitalistischen Establishments und zur Massenbewegung werden. Die Frage ist auch, ob er auf der Ebene eines bloßen Lebensgefühls
verharrt, das sich nur eine materiell abgesicherte Mittelschicht leisten kann, er mithin bloß eine Kulturrevolution als eine soziale Gegenbewegung gegen das System darstellen kann (überspitzt: Barcelona als Kunst- und Kulturmetropole oder Barcelona als historische Kopie der Pariser Kommune?).

Die Quintessenz der Schrift bilden am Ende zehn „Vorschläge, wie wir in die Offensive kommen“. Sie sollen eine Art Leitfaden für die politische Praxis der Linken bilden und werden von den AutorInnen auf jeweils einer Seite in Form von kurzen Appellen ausgeführt. Weil sie den Kern der
Befreiungsstrategie aus der Zwangsjacke der EU ausmachen, seien sie hier im Einzelnen aufgelistet. Wir sind demnach gut beraten, wenn wir …
– die EU nicht idealisieren und den Austritt nicht dämonisieren
– die EU nicht ungewollt legitimieren
– lernen, zu differenzieren und die Standpunkte anderer Länder und sozialer Gruppen einzubeziehen
– pragmatisch damit umgehen, an welche politische Ebene wir unsere Forderungen richten
– Regierungen, Parteien und PolitikerInnen auffordern, mit neoliberalen Regeln zu brechen
– nicht nur Länder, auch Städte, Gemeinden und Regionen als politische Akteure betrachten und mit ihnen arbeiten
– uns den Internationalismus nicht wegnehmen lassen und internationale Kooperation neu denken
– nicht abstrakte Ideen, sondern die Veränderung von Machtverhältnissen ins Zentrum stellen
– jene Konflikte auswählen, die unsere Handlungsspielräume vergrößern und wo wir neue Allianzen bilden können
– Alternativen von unten aufbauen.

Insgesamt lässt sich sagen, dass das Kollektiv mit diesem Weg eine für die europäische Linke sicher gut verwertbare Steilvorlage gibt. Doch kommt hier, in der Aufzählung leicht übersehbar, ein Staatsverständnis zum Vorschein, das von der marxistischen Theorie abweicht; eines, in dem wir die Handschrift des Soziologen Nikos Poulantzas (Staatstheorie. Hamburg: VSA, 2017 im unveränderten Nachdruck) erkennen. Dessen Ansatz erfreut sich in sozialen Bewegungen wie Attac und Think Tanks wie der Rosa-Luxemburg-Stiftung (A. Demirovic, J. Hirsch, B. Jessop) seit Jahren großer Beliebtheit. Demnach kennzeichnet den (bürgerlichen) Staat nicht mehr die strukturelle Gewaltförmigkeit von
Repressionsapparaten (Armee, Polizei, Geheimdienste), die der Gesellschaftsordnung des Kapitalismus absolut verpflichtet sind und eine auf das möglichst reibungslose Funktionieren des Staates des Kapitals (J. Agnoli, 1990) straff ausgerichtete zivile Überbaustruktur (Justiz, Behörden, Medien, Bildungssystem usw.) schützen; sondern der Staat sei ein variables „Kräfteverhältnis“, das je nach dem Willen des politischen Subjekts an seiner Spitze in die eine oder andere Richtung – also auch dem Sturz des Kapitalismus dienlich – verschoben werden kann. Mit anderen Worten: Die Staatsmaschine muss nicht „zerbrochen“ (Lenin, Staat und Revolution, 1916) werden, die Linke an
der Macht besäße die Möglichkeit, sich ihrer für ihre Zwecke zu bedienen. Sie müsse dazu nur ihre „eigenen Initiativen innerhalb [!] des Staates“ entfalten, sie „etappenweise“ vollziehen und „sich nicht auf eine bloße Demokratisierung [!] des Staates“ beschränken (Poulantzas, 290; Hervorhebg. vom Rezensenten). Insofern wäre hinter die Liste der potenziellen Bündnispartner*innen der emanzipatorischen Linken im obigen Text der Österreicher*innen hinter das Wort „Länder“ (ergo Staaten) eigentlich ein dickes Fragezeichen zu machen. Folgten wir dem Ansatz, würden wir nicht mehr dabei enden, den Staat „absterben“ (Marx) zu lassen, weil er aufgrund der verschwindenden gesellschaftlichen Antagonismen überflüssig geworden ist, sondern ihn als nützliches Instrument des Klimaschutzes, des Friedens, des guten Lebens usw. zu behanden:

– die EU nicht idealisieren und den Austritt nicht dämonisieren
– die EU nicht ungewollt legitimieren
– lernen, zu differenzieren und die Standpunkte anderer Länder und sozialer Gruppen einzubeziehen
– pragmatisch damit umgehen, an welche politische Ebene wir unsere Forderungen richten
– Regierungen, Parteien und PolitikerInnen auffordern, mit neoliberalen Regeln zu brechen
– nicht nur Länder, auch Städte, Gemeinden und Regionen als politische Akteure betrachten und mit ihnen arbeiten
– uns den Internationalismus nicht wegnehmen lassen und internationale Kooperation neu denken
– nicht abstrakte Ideen, sondern die Veränderung von Machtverhältnissen ins Zentrum stellen
– jene Konflikte auswählen, die unsere Handlungsspielräume vergrößern und wo wir neue Allianzen bilden können
– Alternativen von unten aufbauen.
Insgesamt lässt sich sagen, dass das Kollektiv mit diesem Weg eine für die europäische Linke sicher gut verwertbare Steilvorlage gibt. Doch kommt hier, in der Aufzählung leicht übersehbar, ein Staatsverständnis zum Vorschein, das von der marxistischen Theorie abweicht; eines, in dem wir die Handschrift des Soziologen Nikos Poulantzas (Staatstheorie. Hamburg: VSA, 2017 im unveränderten Nachdruck) erkennen. Dessen Ansatz erfreut sich in sozialen Bewegungen wie Attac und Think Tanks wie der Rosa-Luxemburg-Stiftung (A. Demirovic, J. Hirsch, B. Jessop) seit Jahren großer Beliebtheit. Demnach kennzeichnet den (bürgerlichen) Staat nicht mehr die strukturelle Gewaltförmigkeit von
Repressionsapparaten (Armee, Polizei, Geheimdienste), die der Gesellschaftsordnung des Kapitalismus absolut verpflichtet sind und eine auf das möglichst reibungslose Funktionieren des Staates des Kapitals (J. Agnoli, 1990) straff ausgerichtete zivile Überbaustruktur (Justiz, Behörden, Medien, Bildungssystem usw.) schützen; sondern der Staat sei ein variables „Kräfteverhältnis“, das je nach dem Willen des politischen Subjekts an seiner Spitze in die eine oder andere Richtung – also auch dem Sturz des Kapitalismus dienlich – verschoben werden kann. Mit anderen Worten: Die Staatsmaschine muss nicht „zerbrochen“ (Lenin, Staat und Revolution, 1916) werden, die Linke an
der Macht besäße die Möglichkeit, sich ihrer für ihre Zwecke zu bedienen. Sie müsse dazu nur ihre „eigenen Initiativen innerhalb [!] des Staates“ entfalten, sie „etappenweise“ vollziehen und „sich nicht auf eine bloße Demokratisierung [!] des Staates“ beschränken (Poulantzas, 290; Hervorhebg. vom Rezensenten). Insofern wäre hinter die Liste der potenziellen Bündnispartner*innen der emanzipatorischen Linken im obigen Text der Österreicher*innen hinter das Wort „Länder“ (ergo Staaten) eigentlich ein dickes Fragezeichen zu machen. Folgten wir dem Ansatz, würden wir nicht mehr dabei enden, den Staat „absterben“ (Marx) zu lassen, weil er aufgrund der verschwindenden gesellschaftlichen Antagonismen überflüssig geworden ist, sondern ihn als nützliches Instrument des Klimaschutzes, des Friedens, des guten Lebens usw. zu behandeln.

2. Kritische Betrachtung

Zweifellos ist es sinnvoll und gelungen, die vielphasige Historie der EU dem Analysekapitel über die o.g. Sachfelder der EU-Politik abrissartig voranzustellen. Ebenso weckt es das Interesse der Leser*innen, gleich zu Beginn die schon im Titel vorformulierte Kernthese kurz aufzuhellen, bevor im Hauptteil anhand zahlreicher Beispiele das Agieren der EU-Mächtigen eingängig herausgearbeitet wird und am Ende eine konkrete europapolitische Perspektive für die emanzipatorische Linke nicht fehlt. Das geschieht dann in Form von kurzgefassten Vorschlägen, die aufzeigen, wie wir uns aus der kniffligen Logik der EU-Maschinerie befreien könnten. So dreht sich die Argumentation stets um diese entscheidende Erkenntnis: „Angesichts der nötigen Einstimmigkeit im EU-Rat und der Dominanz neoliberaler Kräfte ist sowohl
eine progressive Reform der EU-Verträge als auch eine alternative Wirtschaftspolitik illusorisch.“ (12)

Wie ein roter Faden folgt der Aufbau der Beweisführung entlang zahlreicher konkreter Beispiele aus der Praxis der EU-Kommission (wie auch der Troika, des EuGH oder der EZB). Die Verfasser*innen arbeiten sich an bekannten Praktiken der EU ab, an die wir uns gut erinnern – Bankenrettung (zugunsten der reichen Gläubiger und zu Lasten von Millionen sozial benachteiligter Menschen); die Schlinge um den Hals der linken Syriza-Regierung in Griechenland (zwecks Umsetzung der unsozialen Sparvorgaben der Troika); der immense politische Druck (eigentlich müssten wir von Erpressung reden) auf den unbotmäßigen Ministerpräsidenten der Wallonie, Paul Magnette (Parti Socialiste /PS), um diesen zur Unterschrift unter das CETA-Abkommen mit Kanada zu bewegen (was er letztlich leider tat), um nur einige Beispiele zu nennen.
Mehrfach betont wird der Aufstieg der europäischen Rechten aufgrund der sozialen Folgen der neoliberalen Politik. Dem die Lösung entgegenzustellen, wir bräuchten „mehr Europa“, halten die Autor*innen für einen Irrweg. Diese Orientierung gehe davon aus, dass es keine andere Form zwischenstaatlicher Zusammenarbeit gebe und die EU-Verfasstheit das Potenzial besitze, irgendwann zu dem sozialen und demokratischen Gebilde zu werden, das uns von den Herrschenden als vorgebliches Ziel eingeredet wird.

Die Debatte unter der Überschrift „Für oder gegen Europa?“ wird in diesem Zusammenhang überzeugend als Ablenkungsmanöver entlarvt, das den unsozialen Kern der Union verdeckt – ihre an der vorrangigen Bedienung von Kapitalinteressen orientierte, systematische
Ungleichverteilungspolitik von unten nach oben. Emanzipatorische Politik dürfe sich nicht auf die Polarisierung zwischen ‚pro-europäischen‘ und ‚europafeindlichen‘ Kräften einlassen, sondern müsse eine Synthese finden, die sich von den Mitte-Rechts-Positionen klar unterscheidet und genau beschreibt, wie das bessere Europa für alle zu realisieren wäre. Offenherzig gestehen (S. 11) die Autor*innen, dass im Gefolge der Finanzkrise die ursprüngliche Einschätzung von Attac zum „Projekt EU“ infrage gestellt werden müsse. Aus der geforderten
wirtschaftlichen Neuausrichtung und Demokratisierung der EU sei nichts geworden. Die Hoffnung, die anfänglich in die Syriza-Partei an der Spitze der griechischen Linken und in die sozialen Bewegungen in Griechenland gesetzt worden waren und denen die Fähigkeit zugetraut wurde, grundlegende Reformen der Union über konsequenten Widerstand gegen das Diktat der Troika anzustoßen, sei zerstoben. Immer weniger sei es gelungen, die „andere EU“ in der breiten Öffentlichkeit glaubhaft zu machen. Also heißt es nunmehr: Raus aus der EU?
Die Antwort der Österreicher*innen ist erfrischend dialektisch. Sie argumentieren, der Brexit habe z.B. gezeigt, dass soziale Bewegungen zerrieben werden, wenn die extreme Rechte und neoliberale Kräfte über den EU-Austritt (hinzuzufügen wäre: in ständiger Begleitung der Medien) streiten.
Beides, die Rückkehr zum Nationalstaat und ein Austritt aus der EU, aber auch aus dem Euro, seien keine Lösungen. Der linke Austritt (Lexit, s.u.) könne in den einzelnen EU-Ländern sehr unterschiedliche Folgen für die Menschen haben. Leider werden diese Folgen nicht konkret benannt, doch dürfte sich die Aussage auf die große Verschiedenheit der ökonomischen und finanziellen Ressourcen der einzelnen EU-Länder beziehen, die keine pauschale Antwort auf die Austrittsfrage zulassen. Die Autor*innen befürchten außerdem, dass ein Austritt in den meisten Ländern die nationale Rechte wahrscheinlich stärken würde. So regieren nach dem Brexit in Großbritannien weiterhin die Tories, Labour und Corbyn scheinen in der Versenkung verschwunden, eine starke radikale Linke gibt es anscheinend nicht, dafür eine respektable und kampfbereite Zivilgesellschaft.
Mittendrein / Oberndorfer kommen somit zu der Schlussfolgerung, dass die Verträge, Verfahren und Institutionen der EU einen echten Kurswechsel ausschließen, es aber dennoch bessere Optionen als den von der Linken a priori propagierten Austritt aus der Union oder deren vertiefte Integration gibt. Anhand dreier Autoren (Anm.: Viele nicht minder erhellende Texte muss der Rezensent angesichts der Fülle der gebotenen Informationen unberücksichtigt lassen, jeder von ihnen weist jedoch den knallhart prokapitalistischen Funktionsmechanismus der EU nach) seien typische Aspekte neoliberaler EU-Politik beispielhaft zusammengefasst. Im Anschluss wird die neue strategische Orientierung konkret erläutert.

a) Finanzmarktpolitik (38 ff.).

Peter Wahl (Attac-Deutschland / WEED e.V.) sieht in der Deregulierung und Liberalisierung der Finanzmärkte die treibende Kraft der in den 1980-ern einsetzenden Globalisierung. Mit dem Maastrichter Vertrag (1992) habe der EU-Binnenmarkt die Funktionsweise eines  grenzübergreifenden „nationalen“ Marktes angenommen und sei institutionell wie rechtlich an die vier unverrückbaren Grundpfeiler gekoppelt worden: Freier Kapitalverkehr, Öffnung des Dienstleistungssektors für Liberalisierungen, freier Waren- und Personenverkehr. Es gelte das Prinzip
des sog. freien Wettbewerbs (mithin das gnadenlose Konkurrenzprinzip). Zugleich habe das Projekt den sakrosankten Status des Primärrechts (hard law) erhalten, anders als das Sekundärrecht (soft law) in Form von Arbeitnehmerrechten, Steuergerechtigkeit, Umweltrecht usw., alles Kapitel, die in Länderkompetenz gefasst wurden. Hinzuzufügen wäre dem allerdings, dass die so angelegte „Autonomie“ der Einzelstaaten nur eine relative ist. Mit Verordnungen und Richtlinien, die zwingend in nationales Recht umgesetzt werden müssen, „regiert“ die EU systematisch in die Mitgliedsländer hinein, kann Strafen bei Nichtbefolgung verhängen oder den EuGH um die Herbeiführung von Rechtssicherheit anrufen.
Die Besonderheit der Kapitalfreiheit stehe in Art. 63 der EU-Verträge unverrückbar festgeschrieben: „ … sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedsstaaten sowie zwischen den Mitgliedsstaaten und dritten Ländern verboten.“
Die bedingungslose Fixierung auf Kapitalinteressen habe Wahl zufolge der EuGH in seiner Rechtsprechung sogar über die Grundrechte der UNO gestellt, z.B., indem er das Streikrecht zugunsten der Binnenmarktfreiheiten einschränkte. Die Urheber der Europäischen Union hätten eine
grundlegende Asymmetrie zwischen Kapital und Arbeit hergestellt und Kapitalinteressen quasi in den Verfassungsrang erhoben. Emanzipatorische Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik werde somit systematisch unmöglich gemacht. Hier wäre eigentlich vom Autor die von der Juncker-Kommission initiierte Kapitalmarktunion zu ergänzen, die nach dem Finanzcrash von 2008 als finanzpolitisches Rollback betrachtet werden kann. Sie ist nichts Anderes als der Einstieg in eine erneute Deregulierung der Kapitalmärkte und macht die Risikofinanzierung am Kapitalmarkt wieder salonfähig. Der Kreis, der mit dem sog. Financial Services Action Plan (2000) vorgezeichnet wurde und mit dessen Hilfe die Volumina auf den Finanzmärkten wieder rasant anwuchsen („dank“ der Bildung von Hedge- und Private-Equity-Fonds sowie u.a. der Zulassung von Leerverkäufen), schließt sich damit. Warnungen (2009) der UNCTAD, wonach nur die Schließung des Kasinos eine dauerhafte Krisenlösung bringe, verhallten ungehört.

b) Lohnpolitik (68 ff.)

Markus Koza (Ökonom) weist in seinem Aufsatz (68 ff.) nach, wie in der EU die Gewerkschaften und Arbeitsrechte unter Druck gesetzt werden. Die Lohnpolitik insgesamt spielt im neuen System der sog. Economic Governance eine zentrale Rolle. Der Logik ungezügelter Märkte unterworfen, führt Letztere zu Kürzungsprogrammen im Öffentlichen Sektor, zu Lohnstopps, Lohnzurückhaltung und Lohnkürzungen. Erklärtes Ziel der EU-Institutionen sei es, die Mitgliedstaaten der EU und der Eurozone nach außen, aber auch gegeneinander wettbewerbsmäßig zu machen. Das Ergebnis kennen wir: Enorme wirtschaftliche Ungleichgewichte zwischen exportstarken Ländern wie Deutschland und Waren importierenden EU-Mitgliedern wie Portugal, Griechenland oder eine Reihe osteuropäischer EU-Staaten können wesentlich auf die ungleiche Lohnentwicklung zurückgeführt werden. Unweigerlich müssen wir hier daran denken, wie z.B. Deutschland mithilfe jahrelanger Lohnzurückhaltung seine Stellung als führende Exportnation auf Kosten des EU-Südens ausgebaut hat und keinerlei Anstalten macht, von seinem Egoismus abzugehen. Dem ökonomischen Machtgefälle begegnet die EU-Kommission mit der  Forderung an die GRIPS-Staaten (Griechenland, Italien, Portugal, Spanien), eine innere Abwertung durch Senkung der Produktionskosten ihrer Industrien mittels Lohnabbau
vorzunehmen. Ein Teufelskreis wurde so geschaffen.
Im Rahmen des sog. Europäischen Semesters habe, so Koza, die Kommission gegenüber achtzehn Mitgliedsstaaten lohnpolitische Forderungen ausgesprochen und diese mit Haushaltskontrollen und Kontrollen der Lohnentwicklung im öffentlichen Sektor versehen (von wegen Tarifautonomie, ist der Rezensent geneigt, zu sagen). Dem entsprächen strenge Maßnahmen gegen Griechenland, Portugal,
Irland und Zypern im Rahmen der Eurorettung: Aufoktroyierte Lohnkürzungen, Einfrieren von Löhnen, Arbeitszeitverlängerung, Lockerung des Kündigungsschutzes und Ausweitung prekärer Beschäftigung. Zu letzterem Problem fällt uns sofort Deutschland ein, wo SPD und Grüne 2004 den größten Niedriglohnsektor der EU in Kraft gesetzt haben (das stimmt nur zu gut, als dominanter EU-Staat mit verhältnismäßig geringer Staatsverschuldung, gemessen am BIP, hat der prekäre Beschäftigungssektor hierzulande inzwischen erschreckende Ausmaße erreicht).
Europaweit mehrten sich, beschreibt der Autor, unter der Ägide der EU die Angriffe auf Gewerkschaften und Tarifverträge, mit Einschränkungen des Streikrechts, sogar mit gewaltsamer Beendigung von Streiks (so geschehen gegen die streikenden französischen Raffineriearbeiter*innen
des Total-Konzerns 2022), der Verlagerung von Lohnverhandlungen auf die Betriebsebene und der Ausweitung von (Lebens-)Arbeitszeiten. Die Offensive des europäischen Kapitals setze sich fort mit der Forderung nach Einrichtung sog. Nationaler Wettbewerbsräte, auch Produktivitätsräte genannt. Diese sollen laut Koza weitere Arbeitsmarktreformen – wir bezeichnen sie am besten als Konterreformen – in die Wege leiten.
Leider erklärt der Autor nicht, wie wir es ändern können, dass die großen Gewerkschaften, allen voran etwa der DGB, sich die Angriffe auf Löhne und auskömmliche Beschäftigung weitgehend gefallen lassen. So bleibt er bei der bloßen Feststellung, die Lohnpolitik der EU ziele darauf, die
Gewerkschaften „als Gestaltungs- wie als Gegenmacht dauerhaft zu schwächen“. Die Antwort auf das Problem des Aufbaus der emanzipatorischen Kräfte zur Befreiung aus der Kapitalherrschaft in Europa geben leider auch die anderen Verfasser*innen des Bandes nicht. Hier liegt noch Arbeit brach, die unbedingt bewältigt werden muss, wenn wir die konkrete Utopie zur greifbaren Realität machen wollen.

c) Sozialpolitik (80 ff.)

Christine Mayrhuber weist nach (80 ff.), dass die EU trotz Ankündigungen die soziale Lage der Bevölkerung nicht verbessert (hat). Und auch hier taucht wieder der unumgängliche Hinweis auf die Säulenheiligen der Union auf: Ursächlich für den Sozialabbau sei die entlang der vier Grundfreiheiten konstruierte, „wettbewerbsfreundliche“ Anpassung von sozialrechtlichen Vorschriften, für die vor allem die Mitgliedsstaaten verantwortlich sind. Zwar seien mit der sog. Einheitlichen Europäischen Akte (1986) einzelne Regulierungen wie die Festlegung von Mindeststandards beim Arbeitsschutz oder das Verbot der Lohndiskriminierung vorgenommen worden. Andererseits seien die Mittel aus
dem Europäischen Sozialfonds (ESF) in Höhe von rd. 10 Mrd. Euro (2017) pro Jahr stets absolut unzureichend geblieben. Ausgleichsmechanismen in der Eurozone, wo wirtschaftliche Unterschiede nicht (mehr) mit Auf- oder Abwertung der nationalen Währungen abgefedert werden können, fehlen. Krasse Negativeffekte der Liberalisierung, denen die EU mit zahlreichen wohlklingenden Programmen begegnete (Europäische Sozialagenda ab 2020; EU-2020-Ziele ab 2010; Sozialinvestitionsstrategie für Wachstum und Beschäftigung usw.), seien durch die gleichzeitige rigide Budgetvorgabe für die nationalen Sozialausgaben konterkariert worden. So habe die EU von Krisenstaaten Einschnitte bei Arbeitsrechten und in die sozialen Sicherungssysteme verlangt, mit der Folge, dass die soziale Ungleichheit stieg, und mit ihr die EU-weite Arbeitslosenquote (2016) von im Schnitt 8,5%, dabei regional schwankend mit einer griechischen Quote von 23,6 %.
Ein typisches Phänomen des Kapitalismus ist es auch, dass in der wachstumsstarken Konjunktur bis in die 1970-er Jahre hinein, als der Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg seinem Ende zuging, noch Begriffe florierten wie „Wohlfahrtsstaat“ oder „Sozialstaaten“ in Europa; Termini, die man den (EWG- / EU-)Mitgliedsländern zudichtete, als der Interessenausgleich zwischen Lohnarbeit und Kapital noch beträchtliche Ressourcen für die Masse der Beschäftigten und die meisten Arbeitslosen abwarf. Wir flechten hier ein: In der Krise, bei geringeren Wachstumsraten und erst recht auf den ab Ende der 1990-er Jahre von der WTO geforderten offenen Weltmärkten, zog das Kapital die Zügel
straff und setzte der halbwegs „gerechten“ Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts sehr rasch ein Ende. Aus Sicht der Unternehmer galt es, weiterhin möglichst hohe Wachstumsraten zu erzielen und durch Abwerfen von reichlich sozialem Ballast maximale Renditen auch unter dem steigenden Konkurrenzdruck auf den Weltmärkten zu erzielen. Die langjährige soziale Abfederung, erklärt Mayrhuber, habe damals die Zustimmung der Menschen zum Abbau der Handelsschranken, zur Liberalisierung und zum Binnenmarkt leicht gemacht. Wie Klassiker*innen des Marxismus es sahen, haben die „Massen“ ein kurzes historisches Gedächtnis – vergessen die Jahre der Entbehrung
und Zerstörung durch den zuvorderst vom deutschen Kapital vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieg und die Not der vorangegangenen Krise der Weltwirtschaft. Die Menschen lassen sich offenkundig so lange auf keine riskanten Experimente wie den Umsturz des kapitalistischen Ausbeutungssystems ein, wie ihnen das Wasser nicht bis zum Hals steht oder sie von extremer sozialer Unsicherheit betroffen sind. Die EU habe, fährt die Verfasserin fort, im neuen Verteilungskampf vorbeugend reagiert und 2017 die sog. Säule der sozialen Rechte errichtet. Sie sehe jedoch nur für Budgetvorgaben, die von den Nationalstaaten nicht eingehalten werden, Sanktionen vor, nicht aber für die Missachtung sozialpolitischer Ziele. Mindeststandards in der Sozialpolitik der Mitgliedsstaaten seien nicht vorgesehen. Die „Säule“ stehe unter der Prämisse, dass sie zur Vertiefung der Währungsunion beiträgt. Ohnehin, so ihr Fazit, würden allenfalls Problembereiche skizziert, statt konkrete Maßnahmen definiert. Sozialpolitik in der EU diene somit nicht der Daseinsvorsorge und der gerechten Umverteilung, sondern der „Steuerung individueller Verhaltensweisen“. Die vielen, auf dem Papier fortschrittlich anmutenden Elemente wie die Gleichstellung der Geschlechter, angemessene Arbeitsentgelte und Sozialtransfers, Arbeitsmarktförderung und Arbeitsschutz, stellen aus ihrer Sicht die Grundstrukturen der EU (Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit, Dominanz der Finanzmärkte, Fiskalpakt) nicht infrage. Sozialpolitik in der EU sei dafür gemacht, die Arbeitsmärkte und sozialen Sicherungssysteme an die Produktionsbedingungen der (wir würden hinzufügen, von
Konzernen beherrschten) Wirtschafts- und Währungsunion anzupassen.

Exkurs zur europäischen extremen Rechten (137 ff.)

Heute, fünf Jahre nach Erscheinen des Bandes, hat die europäische Rechte auf der Wahlebene nochmals zugelegt (Italien). Die Positionen (137 ff.) Joachim Beckers von der Wirtschaftsuniversität Wien zur Frage des Umgangs mit diesem hochgefährlichen Trend haben demzufolge an Bedeutung gewonnen. Seine Interpretation: „Man kann die politische Rechte in Europa nicht losgelöst von den sogenannten gemäßigten Kräften sehen. Die dominante Strategie des Mainstreams von rechts bis Mitte-links will ja die neoliberale Integration mit einer flexiblen und reaktiven Politik des Durchwurschtelns fortführen. Das lässt das ‚Weißbuch zur Zukunft Europas‘ der EU-Kommission erkennen. Zur Diskussion steht darin allein das Ausmaß, aber nicht die Ausrichtung des europäischen Integrationsprotests.“ Es ist also die wirtschaftspolitische Grundausrichtung der europäischen Integration, die zur Frustration und „anti-europäischen“ Stimmung vieler Menschen wesentlich beigetragen hat, woraus die extrem Rechten ihren Nutzen besser gezogen haben als die Linke. Warum das so ist, wird vom Autor zwar nicht untersucht (es wäre wohl auch ein eigenes Thema). Dafür aber wird gut herausgearbeitet, wie die Parteien der Mitte immer mehr Elemente rechter Politik übernehmen, vor allem im Rahmen des Sicherheitsdiskurses (militarisierter Grenzschutz, militärische Zusammenarbeit, verstärkte innereuropäische Grenzkontrollen). Becker sieht hier eine Klammer zwischen Konservativen, Sozialdemokraten und der nationalistischen Rechten. Wir müssten der Vollständigkeit halber die Grünen hinzufügen, die in Deutschland an der Schaffung des größten Niedriglohnsektors
der EU beteiligt waren und in der Ampel-Regierung ein atemberaubendes 100-Milliarden-Rüstungspaket zusammengeschnürt haben. Es zeichnet den Band jedoch aus, dass ein kompetenter Autor präzise herausarbeitet, wie sehr sich die extreme Rechte und die bürgerliche Mitte in wichtigen Fragen der Europapolitik einig sind. So auch in der Arbeitsmarktfrage (Einschränkung des Zugangs von EU-Migrant*innen zu Sozialleistungen bzw. zum Arbeitsmarkt) und hinsichtlich der Vision eines ‚Kerneuropa‘, das zum Ziel habe, den Ballast der ‚schwachen Volkswirtschaften‘ an der südlichen EU-Peripherie abzuwerfen. Wer diesem Kerneuropa angehören würde, sagt uns der Text zwar nicht. Dass Deutschland, Frankreich oder auch die Niederlande als wohlhabendster EU-Staat, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, vermutlich dazugehören, dürfte aber schlüssig sein. Fast immer ist es in der Geschichte so, dass bei Konflikten zwischen Klassengesellschaften (Klassenstaaten) der reichere Teil dazu neigt, den ärmeren abzustoßen, um seine Privilegien zu verteidigen. Ähnlich
verhält es sich häufig bei Nationalitätskonflikten innerhalb von Klassenstaaten.
Insgesamt kommt der Aufsatz zu dem Befund, dass ein relevanter (FPÖ, AfD, Teile der britischen Konservativen, Viktor Orbán – man müsste jetzt wohl die italienische Rechtskoalition mit den Fratelli d’Italia und Meloni als Regierungschefin hinzufügen) Teil der Rechtsextremen in der EU und im Binnenmarkt bleiben, zugleich aber die nationalstaatlichen Kompetenzen stärken und in wichtigen Bereichen politisch reaktionär ausrichten (Menschenrechts- und Gleichstellungspolitik) wollen. Etwas unklar bleibt in Beckers Analyse die zukünftige EU-Orientierung von Le Pen, die widersprüchliche Signale aussende, aber z.B. auch der Kurs der niederländischen PVV (die deutlich in Richtung Austritt tendiere). Die Antwort käme, wir sehen es voraus, spätestens zum Zeitpunkt einer möglichen Wahlsiegprognose und einer Regierungsbildung mit diesen Parteien als bestimmende Kräfte

 
 
Fotograf: Tim Reckmann , Lizenz: CC-BY 2.0, https://ccnull.de/foto/europaeische-kommission/1006740

d) Welche strategische Orientierung? (162 ff.)

Lexit, Eurexit, demokratische Reform der EU – so heißen die verschiedenen Optionen in der politischen Landschaft all jener Gruppen, die mit der EU unzufrieden sind und nach einem Ausweg aus dem Neoliberalismus bzw. der Herrschaft des (Monopol-)Kapitals schlechthin in Europa suchen. Der Titel des Bandes weist nun darauf hin, dass Attac-Österreich einen dialektischen Sonderweg vorschlägt, der auf den ersten Blick paradox anmutet. Bei näherem Hinsehen allerdings erschließt sich der Gedanke des Autor*innenkollektivs logisch. Während die Lexit-Strömung aus der Griechenland-Krise den Schluss zog, mit der EU insgesamt und dem Euro müsse radikal gebrochen werden, hält Attac-Österreich nach gründlicher Recherche der inneren Funktionsweise und rechtlichen Struktur der Union die Konzentration der Debatte auf die Gegensätze ‘reformieren oder austreten‘ für verkürzt. Stattdessen wird vorgeschlagen, kühn und gezielt das Regelwerk der EU zu brechen und planvollen „strategischen Ungehorsam“ (Mittendrein / Schneider, 208 ff.) zu leisten. Zum Beispiel, indem eine gegebene EU-Regierung bestimmte Vorgaben aus Brüssel schlicht unbeachtet lässt, so etwa budgetäre Kürzungen. Eine zweite Möglichkeit wird in einer offensiveren Reaktion gesehen. Derart, dass anhand konkreter politischer Inhalte und mit Unterstützung durch eine breite Mobilisierung von unten ein offener Konflikt mit der EU vom Zaun gebrochen wird (uns fällt da als Beispiel spontan die Verabschiedung eines Gesetzes zur Vergesellschaftung der gesamten Energieversorgung ein). Der Bruch mit den geltenden EU-Regeln sollte durch Erklärungen öffentlichkeitswirksam untermauert werden, heißt es weiter.
Bezüglich der strengen Budgetauflagen würde zur Nichteinhaltung der Fiskalregeln übergegangen werden; z.B., indem der Ausbau der Bahn bzw. des ÖPNV forciert wird (wir würden andere Beispiele hinzufügen, wie die Wiedereinführung der Vermögensteuer, die progressive Besteuerung von Einkommen, Vermögen und Erbschaft oder die 100-prozentige Besteuerung der Rüstungsgewinne).
Als zeitlich begrenzte Ergänzung der Umverteilung von Reich zu Arm könnten wir uns auf der Suche nach ausreichend staatlichem Investitionskapital – eine entsprechend ausgerichtete, linke Regierung vorausgesetzt und gestützt auf Mobilisierungen der (radikal-)demokratischen und radikalökologischen Zivilgesellschaft – das Konzept der sog. Modern Monetary Theory (Dirk Ehnts) zu
eigen machen und über eine zusätzliche Geldschöpfung die ökologisch dringendsten Investitionen (in die Energiewende, die Verkehrswende, die Agrarwende, den Rückbau der auf Wachstum fixierten Industrie) angehen. Solcherlei konkrete Maßnahmen führen die Autor*innen jedoch nicht an, sondern bleiben auf einer abstrakten Ebene stehen.
Dafür erkennen sie sehr wohl, dass die offene Konfrontation mit der EU-Macht das Vorbereitetsein auf Sanktionen und Konflikte mit jenen Kräften erfordert, die das linksgerichtete Ausscheren aus der Gemeinschaft prokapitalistischer EU-Apologet*innen als schlimmen Frevel betrachten. Die dominante Abteilung an der Spitze der EU hat schon gezeigt, dass sie genau wie der nationale Klassenstaat auf dem rechten Auge blind ist und den Regelbruch der europäischen nationalistischen Rechten ganz anders ahndet als sie es mit linken Regierungen täte. Orbán in Ungarn (Medienrecht) und die PIS in Polen (Justiz) brechen offen EU-Recht, ohne dafür nennenswert bestraft zu werden. Weil sie die EU nicht zerstören, sondern „nur“ in eine Assoziation starker Nationalstaaten verwandeln wollen, in denen die Bourgeoisie des eigenen Landes besser vor ausländischen Investments und Übernahmen geschützt ist, toleriert Brüssel das, solange es eben geht. Hauptsache, Ungarn und Polen sind verlässliche Partner der Abschirmung der EU-Außengrenzen gegen Geflüchtete und tragen die EU-Militarisierung mit. Nicht zu vergessen die NATO-Mitgliedschaft der osteuropäischen Staaten, die so wertvoll für den „freiheitlichen Westen“ ist, dass sie für rechte
Nationalisten inzwischen quasi zum Freifahrtschein für eine nationale Politik wider „rechtsstaatliche“ EU- Grundsätze geworden ist.

Analog zum budgetären Regelbruch könnte eine linke Ungehorsamsstrategie das EU-Wettbewerbsrecht (festgelegt in Art. 107 AEUV) missachten, meinen Mittendrein / Oberndorfer (116 ff.), und schlagen vor, öffentliche Investitionen in den sozial-ökologischen Umbau der Produktion vorzunehmen. Was sie damit genau meinen, erfahren wir leider nicht an einem Beispiel. Auch bleibt die Frage von Vergesellschaftungen ebenso außen vor wie das Problem der Bekämpfung der Kapitalflucht, wenn Sozialpakete und höhere Löhne die Proftitrate der Konzerne zu stark drücken und sie als – im Sinne der EU „freie“ – Wirtschaftssubjekte zum Mittel der Produktionsverlagerung greifen.
Die gezielte Unbotmäßigkeit ließe sich auf weitere Politikfelder ausweiten, ergänzen wir die Österreicher*innen: Auf die finanzielle Stützung von KMU zum Schutz vor den Folgewirkungen der von Konzerninteressen getriebenen EU-Freihandelsagenda; auf den grundsätzlichen Verzicht auf
extralegale Schiedsgerichte in Handelsabkommen; auf die Sanktionierung von Verstößen gegen die Menschenrechte in den Lieferketten und die Schaffung kürzestmöglicher Handelswege; auf die Verpflichtung zu (sanktionsbewehrtem) Klima- und Umweltschutz; schließlich auf ein
Beschaffungswesen von Bund, Ländern und Gemeinden, das nicht wie mit CETA, JEFTA & Co. zu Dumping-Angeboten ausländischer Investoren führt, die regionale KMU ausbooten. Die angestrebten Alternativen sollten sich aber, heißt es im Text, grundlegend von den Zielen der EU-Rechten unterscheiden. Und leider auch hier vermisst der/die aufmerksame Leser*in ein konkretes Beispiel,
wie das zu bewerkstelligen wäre.
Zur Frage des linken Austritts, die sich als Folge einer derartigen Strategie früher oder später konkret stellen könnte, dann, wenn die EU-Macht einer dissidenten linken Regierung – wie mit Syriza geschehen – die Entscheidung aufzwingt, vertreten die Österreicher*innen eine differenzierte
Position. Ein solcher Schritt sollte unter anderem davon abhängig gemacht werden, welches EU-Land ihn vollzöge. Ohne es genauer von den Autor*innen zu erfahren, dürfen wir annehmen, dass dem vergleichsweise ärmeren EU-Süden in dieser Frage ungleich geringere  Überlebenschancen eingeräumt werden als der reichen Mitte und dem Norden der EU, deren ökonomische Chancen auf
ein Überleben „danach“ erheblich besser sein dürften (ob die Entwicklung der britischen Ökonomie und Gesellschaft seit dem Brexit dieser These Recht gibt, bleibt eine spannende Frage).
Für einen wünschenswerten Fall halten die Verfasser*innen den gleichzeitigen Austritt mehrerer kleiner oder größerer EU-Länder (auf der Basis einer fundierten sozial-ökologischen und radikaldemokratischen Transformationsperspektive, wäre aus Sicht des Rezensenten
vorauszusetzen), da sie gemeinsam bessere Chancen auf Schaffung einer alternativen institutionellen Kooperationsstruktur und einer planvollen, demokratischen Neuorganisation hätten.

3. Fazit und Perspektive

„Konkret“ können wir die Utopie der Österreicher*innen angesichts der rechten Offensive in Europa nicht nennen. In Deutschland hat gerade die Verabschiedung des CETA-Zustimmungsgesetzes im Deutschen Bundestag gezeigt, wie stark die neoliberalen Parteien von SPD bis Union nach wie vor im System verankert sind. Daran ändern auch die aufgedeckten Umsturzpläne der sog. Reichsbürgerszene und Neonazis nichts, die ohnehin viel mehr dem kühnen, aber (objektiv gesehen) vermessen angelegten Münchener Hitlerputsch von 1923 ähneln dürften – es dauerte immerhin weitere zehn Jahre bis zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler -, als dass sie im Jahr 2022 eine akute Gefahr für den Bestand der Bundesrepublik darstellen (womit der Rezensent nicht die Gefahr einzelner rechter Terrorakte herunterspielen will, die jederzeit möglich sind und viele Menschen das Leben kosten können). In Italien sind inzwischen die Neofaschisten an der Macht. Und in Frankreich setzt Macron neuerdings sein Programm sozialer Konterreformen mithilfe von Notstandsdekreten durch, ohne dass die demokratisch gewählte Nationalversammlung dem etwas Wirksames entgegensetzen kann. Der Neoliberalismus bricht sich einfach Bahn mit Hilfe institutioneller Gewalt, rechtsstaatlich eben, konform mit der westlichen „Wertegemeinschaft“.
Auf der anderen Seite ist die gesellschaftliche Linke, vor allem in Deutschland (verglichen mit Frankreich, Portugal oder Spanien) weit davon entfernt, dem herrschenden Block an der Macht wirklich gefährlich zu werden. Geschweige denn kann sie eigene Gegenmachtstrukturen aufbauen, wie sie uns vielleicht in Gestalt  direktdemokratischer Formen (Fabrikräte, Stadtteilkomitees, Bürgerkonvente, „munizipalistische“ Kommunen, Assambleas) vorschweben und als potenzielle Wegbereiter*innen und Träger*innen der zukünftigen sozial-ökologischen Transformation funktionieren könnten. Daher müsste die entscheidende Frage an das Autor*innenkollektiv, nachdem wir in der sachlichen Analyse Klarheit haben, lauten:
Wie kommen wir in einem gegebenen EU-Land dazu, eine Partei, soziale Bewegung, ein Bündnis an die Macht zu bringen, die den skizzierten Weg einschlagen? Eine Struktur oder ein Netzwerk, das überhaupt erst in die Lage kommt, aufgrund der ihr/ihm zur Verfügung stehenden Mittel strategischen Ungehorsam zu praktizieren, sowohl gegen die eigene Regierung wie gegen das Zentrum der EU (Rat, Kommission, EZB). Die Antwort darauf bleibt der handliche Band, aus dessen Lektüre wir viel Wissen in komprimierter Form mitnehmen können, schuldig. Er hinterlässt darüber hinaus eine Lücke, die auch sonst viele Linke in Publikationen und auf Kongressen bislang nicht zu füllen vermocht haben: Was tun wir gegen die Übermacht der bürgerlichen Medien, die letztlich immer die Interessen der wirtschaftlich Mächtigen und der politisch herrschenden Klasse vertreten?
Diese Gretchenfragen dürften eindeutig schwieriger zu beantworten sein als die Frage nach der inneren Funktionsweise der EU, ihrer Konstitution und ihren Zielen. Werden es rebellische, neuartige Gewerkschaften sein, die wir erfolgreich aufbauen können? Entbürokratisierte, mobilisierungsfähige und mobilisierungswillige „Massenorganisationen der Arbeiter*innenklasse“, die den Traum vom besseren Europa verwirklichen? Kann diese Herkules-Aufgabe etwa nur von der „einen“ (der wievielten eigentlich in der Geschichte?) linken „Massenpartei“ gelöst werden, wie sie trotzkistischen Kleingruppen als Ideal noch immer vorschwebt und dem genauso die Mitglieder anderer linker
Parteien (DKP, KPF in Frankreich, wallonische PTB, Die Linke, … ) anhängen? Schafft es vielleicht die neue Generation junger Kämpfer*innen der sog. Kommunistischen Organisation (im Verbund mit der internationalen kommunistischen Bewegung), eines Tages die Machtfrage zu stellen? Oder wird es keine dieser Strömungen sein, werden allzu viele unbelehrbar bleiben und die gescheiterten Doktrinen des Maoismus-Stalinismus, ja selbst jene des (für viele oft „besserwisserisch“ daher kommenden) „Trotzkismus“ sowie des dogmatischen Anarchismus nicht ablegen können und die eigene Organisation stets über alles stellen?
Zukünftig muss die Frage der Kandidatur zu bürgerlichen Parlamenten dringend neu diskutiert werden. Die Verparlamentarisierung ist die größte Gefahr, der die Linke insgesamt, sei es in Form einer BI oder einer Partei, unterliegen kann. Die Geschichte der bundesdeutschen Grünen ist in dieser Hinsicht das lehrreichste Beispiel und leider eine Erfahrung, aus der Die Linke nichts gelernt zu haben scheint, wie die Zustimmung zum Berliner Koalitionsvertrag und die Übernahme von Regierungsverantwortung ebenso zeigt wie die systemkonforme Regierungspraxis Bodo Ramelows in Thüringen (Beispiel: Waffenlieferungen an die Ukraine, Stimmenthaltung zum CETA-Vertrag im Bundesrat). Dagegen scheint es vielversprechender, auf eine intelligente Vernetzung / Fusion einer neuen „APO“ aus linken (antikapitalistischen) Gruppen,  radikalökologischen und sozialen Bewegungen, Klima-Aktivist*innen (FFF, S4F, XR, Last Generation usw.) zu setzen, die sämtliche
Illusionen in Grüne und SPD abgestreift haben. Richtig angewandt, demokratisch strukturiert und transparent organisiert, könnte daraus eine neue soziale Transformationsbewegung werden, die kooperative Bündnisarbeit von unten in der Praxis erprobt und solidarisch praktiziert, um früher oder später jenen „subjektiven Faktor“ der Gesellschaftsveränderung zu bilden, der heute nur in Ansätzen vorhanden ist. Auf diese Weise ist es nicht nötig, auf den (Sankt Nimmerleins-)Tag zu warten, an dem die „eine“ linke Partei mit substitutionalistischem Denkansatz die Mehrheit der Lohnabhängigen und eines relevanten Teils der Mittelschicht hinter sich gebracht hat.

Hans-Jürgen Kleine*, Köln, Dezember 2022 *Der Rezensent ist Historiker, er gehört keiner Partei an.