Die britische Kriegswirtschaft 1939 – 1945 – ein überzeugendes Modell für die zukünftige Postwachstumsgesellschaft?

Hans-Jürgen Kleine

Rezension des Spiegel-Bestsellers (2022) von Ulrike Herrmann, Buchtitel:
Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden.
1. Auflage. Köln, 2022. 341 Seiten, gebundene Ausgabe
Rezensent: Hans-Jürgen Kleine
Im Folgenden stellen wir zunächst eine Kurzfassung der Buchbesprechung voran. Für LeserInnen, die mehr lesen und tiefer ins Detail gehen wollen, verweisen wir auf die untenstehende PDF-Datei zum Downloaden.
Foto: Ulrike Hermann at Frankfurter Buchmesse 2022.jpg, Wikimedia Commons, Autor: Elena Ternovaja

Ulrike Herrmann hat das Talent, mit spannend klingenden Buchtiteln ein breites Publikum von links bis in die bürgerliche Mitte anzusprechen. Das rotfarbene Cover ihres Spiegel-Bestsellers könnte sie außerdem als konsequente Gegnerin des Kapitalismus erscheinen lassen. Wenn sie dann noch im Untertitel den grundlegenden Widerspruch andeutet, der die aktuelle wissenschaftliche Klimadebatte bestimmt, darf sie sich eines größeren Lesepublikums ziemlich sicher sein. Umso wichtiger ist es für die ökosozialistische Klimabewegung, ihre Argumentation unter die Lupe zu nehmen.

Historische Überraschungen

Nach eingehender Lektüre des Werks muss festgehalten werden:
Zwar schafft es die Autorin, uns im ersten Teil ihres Textes manche historische Überraschung zu präsentieren. Darunter den Befund, das England des späten 18. Und beginnenden 19. Jahrhunderts sei vor allem wegen der hohen Löhne auf der Insel zur Wiege der kapitalistischen Wirtschaftsweise geworden, habe dieser Umstand doch den Genius vieler Handwerker und Tüftler kräftig angetrieben, die menschliche Arbeitskraft früher als auf dem europäischen Kontinent durch Maschinen zu ersetzen. Hingegen habe sich der Einsatz teurer Technik in Deutschland oder Frankreich zu jener Zeit kaum gelohnt, weil dort die Arbeitskraft billig war. Einige gewagte Thesen, die Herrmann zur Tragödie des europäischen Kolonialismus aufstellt, können hier nicht näher ausgeführt werden, dürften aber für Geschichtsinteressierte genug Zündstoff für Debatten liefern (1).

Sonne und Wind als natürliche Energiequellen habe Tücken

Ein Lob gebührt dem Werk allerdings für den gelungenen Mittelteil. Hier geht seine Verfasserin mit der Kernaussage, nach der das vom ökonomischen Main Stream angesteuerte „grüne“ Wachstum des marktwirtschaftlichen Systems ein Irrweg bei der Suche nach nachhaltigen Lösungen zur Bewältigung der Klimakrise ist, in die Vollen. Reihenweise zerstört sie auf der Basis fundierten Zahlenmaterials und wissenschaftlicher Berechnungen die vorhandenen großen Illusionen in die Effizienz und Umweltverträglichkeit der am häufigsten diskutierten Technologien (Sequestrierung von CO2 aus der Atmosphäre, Atomenergie, Biomasse, Wüstenstrom). Herrmann weist u.a. nach, dass auch Sonne und Wind als natürliche Energiequellen durchaus ihre Tücken haben. Die durch sie erzeugte Energiemenge reiche – wohlgemerkt bei Weiterverfolgung der ökonomischen Wachstumsstrategie – bei weitem nicht aus, um den Energiehunger von Haushalten, Landwirtschaft, Handel, Dienstleistungen und Industrie zu decken. Ohne Aufgabe unseres gewohnten Lebensstils und konform mit der Kritik von Ulrich Brand / Markus Wissen an der „imperialen Lebensweise“ vor allem der Mittel- und Oberschicht der reichen Industriestaaten des Nordens kommen wir der Klimakatastrophe nicht bei. Die fundamentale Wachstumskritik bestätigend, kommt die Erkenntnis hinzu, dass auch die für die Energiewende zwingend erforderlichen Rohstoffe, wie Seltene Metalle, endlich sind, wenn wir bedenken, dass z.B. ein Windrad nur eine Lebensdauer von ca. 20 Jahren hat und die Nachfrage nach denjenigen Mineralien, die seine Herstellung benötigt, enorm steigern wird, dies bei gleichzeitig abnehmender Qualität der Vorkommen. Die aufwändigen Prozeduren der Produktion dieser mineralischen Stoffe treiben zugleich ihren Preis nach oben. Kurzum: Die Energiewende verbietet ein Leben im Überfluss. Erfreulich ist ferner, dass Herrmann dem hochbrisanten Thema ‚Entkoppelung‘ von Energieverbrauch und Wirtschaftswachstum besondere Aufmerksamkeit widmet. An die Möglichkeit, fröhlich mit der kapitalistischen Massenproduktion und dem fast schon pathologischen Konsumismus der modernen Gesellschaften weiterzumachen, wenn nur alles mit dem Label „klimaneutral“ versehen wird, glauben leider selbst namhafte KlimaforscherInnen. Denn mit Ökostrom lässt sich nur ein kleiner Teil der riesigen Energiemengen bereitstellen, die Deutschlands gesamte Technik pro Jahr benötigt. Radikales Energiesparen bis zur Abnahme des Energieeinsatzes um ca. 50% ist daher in den meisten Studien angesagt. Die Logik, so weist die Berlinerin nach, mit wenig Energie immer mehr Waren und Dienstleistungen zu erstreben, funktioniert nicht. Jeder/Jede ErdbewohnerIn dürfte quasi ab sofort nicht mehr als eine Tonne CO2 pro Jahr emittieren, wenn wir die beschlossenen Klimaziele noch erreichen wollen.

Modell der britischen Kriegswirtschaft

Erst spät zaubert Ulrike Herrmann ihre Lösung aus dem Hut, den Rückgriff auf das für sie „faszinierende“ Modell der britischen Kriegsplanwirtschaft 1939 – 1945. Keinen Hehl macht sie daraus, dass jene „private Planwirtschaft“ (private Betriebe, planender Staat), wie sie es nennt, alle Menschen im Königreich ausreichend mit Lebensmitteln versorgt habe, also selbst im Krieg niemand habe hungern müssen. Sogar gesundheitlichen Standards habe das Kriegswirtschaftssystem genügt. Die unteren Schichten seien besser denn je versorgt worden, Mengen- und Preiskontrollen ausgesprochen populär und Rationierungsprogramme sogar beliebt gewesen, weil jede/jeder das Gleiche bekommen habe. Die Folge: In kürzester Zeit fiel damals der Konsum um ein Drittel. Herrmanns Schlussfolgerung: Die in den letzten 80 Jahren um das Zehnfache gewachsene deutsche Wirtschaft macht es für alle zumutbar, in Zukunft von diesem enormen Wohlstand die Hälfte übrig zu lassen. Eine solche Vision für Friedenszeiten mutet auf den ersten Blick zweifellos sozial-revolutionär an, hat aber ein großes Manko: Es wäre unter den gegebenen Umständen eine sozial-ökologische Transformation von oben, aufoktroyiert von einer konsequent prokapitalistischen Regierung. Diese ginge aus der parlamentarischen Repräsentationsdemokratie der Bundesrepublik Deutschland hervor, d.h. aus einer Pseudo-Demokratie, die keine originalgetreue Wiedergabe des demokratischen Mehrheitswillens des Souveräns garantieren kann. Schon deshalb nicht, weil Plebiszite über die wichtigsten Fragen des gesellschaftlichen Zusammen- und Überlebens qua geltender Verfassung ausgeschlossen sind: Militarisierung oder Entspannungspolitik; Konsumismus oder Konsumverzicht; Emanzipation der Frauen oder fortgesetztes Patriarchat; marktkonforme Fabrikkliniken oder flächendeckende öffentliche Krankenhäuser; Freihandel oder fairer, re-regionalisierter Handel; Konzernherrschaft oder Gemeinwohlökonomie; Ausbau des ÖPNV oder rohstofffressende Antriebswende; Massentierhaltung oder Schutz des Tierwohls; Giftchemie oder sanfte Chemieproduktion; Ausbau der alternativen Energien oder andauernder Fossilismus; Konsumismus oder Konsumverzicht; Wegwerfgesellschaft oder ressourcensparende Recycling-Ökonomie; Finanzcasino oder demokratisches Bankwesen, um nur einige Beispiele zu nennen. Wirtschaftslobbyismus, eine korruptionsanfällige Parteienfinanzierung und lukrative Nebeneinkünfte der Abgeordneten haben ihre Blüten inzwischen so weit getrieben, dass eine parlamentarische Lösung der Klimakrise wie auch der tiefen sozialen Krise de facto ausgeschlossen sein dürfte.

Kein Bekenntnis zu Enteignung und Vergesellschaftung

Aufmerksame LeserInnen werden außerdem feststellen, dass die Autorin sich keineswegs zu einer Entmachtung, resp. Enteignung und Vergesellschaftung sowie Aufspaltung der DAX-Konzerne als größter Klimakiller Deutschlands (M. Binswanger, 2019) bekennt. Die Marktwirtschaft lehnt sie nicht ab, wenn nur der Staat seine interventionistische Rolle an der richtigen Stelle ausübt. An die Möglichkeit einer grundlegend anderen Gestaltung der Wirtschaft, z.B. über die Errichtung einer realen demokratischen Planwirtschaft unter breiter Beteiligung der ProduzentInnen, glaubt sie nicht, da sie diesen Ansatz aufgrund der Erfahrung mit dem bürokratischen Sowjetregime für historisch gescheitert hält. Somit bleibt sie viele Antworten auf die Probleme der Transformation schuldig.
Ein großes Rätsel bleibt im Übrigen Herrmanns Annahme, dass Ausbeutung und Krieg dem Kapitalismus nur schaden. Hier sei ihr geraten, gründlicher in die Geschichte zu schauen und sich einmal mit dem Theorem der „schöpferischen Zerstörung“ des Ökonomen Joseph Schumpeter zu befassen: Wenn ausbleibendes Wirtschaftswachstum, ein kräftiger Einbruch von Gewinnerwartungen und eine immer schärfer werdende Blockkonkurrenz der Großmächte im Kampf um die Weltmärkte faktoriell zusammentreffen, ist ein (u.U. großer, nuklear geführter) Krieg für die Herrschenden immer die Ultima Ratio, niemals jedoch die freiwillige Preisgabe ihres Vermögens und ihrer dominanten gesellschaftlichen Stellung als Eigner*innen der Produktionsmittel. Nach der großen Katastrophe sind die Produktivkräfte weitgehend zerstört, danach, in der „Stunde Null“ (Kriegsende 1945), können die Sieger mit dem wirtschaftlichen Wiederaufbau erneut Wachstum (der Profite) schaffen, und der Kapitalismus nimmt einen neuen Anfang, wenn die überlebende Menschheit es zulässt. Zwei Weltkriege mit zusammen rd. 70 Millionen Toten und die nachfolgende Besatzungspolitik der Westmächte (im Kontext des Marshall-Plans) hätten der Berlinerin eigentlich ein Beleg dafür sein müssen, dass sie mit ihrer These grundfalsch liegt. Wenn die sich in Ostasien dramatisch zuspitzende Fehde zwischen USA und EU einerseits und China andererseits (den Ukrainekrieg konnte die Autorin vmtl. noch nicht berücksichtigen, s.o.) kein Beleg für die ungestillte Kriegslüsternheit des Kapitalismus ist, der sich von einem neuerlichen Waffengang mehr verspricht als von friedlicher Koexistenz und Entspannung zur gemeinsamen Lösung der größten aller Krisen der Menschheit, der Klimakrise, wie glaubt die Verfasserin denn, bitte schön, die Profitwirtschaft von den Vorteilen des Pazifismus und des Verzichts auf maximalen Gewinn überzeugen zu können? Sodass sich die neuen Finanzakteure des 21. Jahrhunderts (W. Rügemer, 2018) aus Vernunftgründen aus ihren Kommandohöhen zurückziehen und von ihrem Besitz trennen. Militärische Aggression und Missachtung der Würde des Menschen sind charakteristische Merkmale des Systems, in dem wir leben, also müssen wir es kollektiv von unten aus den Angeln heben. Von selbst passiert das nicht, wie die Autorin meint.

(1) So setzt z.B. die Autorin die vorkoloniale Epoche des innerafrikanischen Sklavenhandels zwischen lokal herrschenden Ethnien mit der systematischen physischen Ausrottung von Abermillionen Ureinwohner*innen Amerikas durch die imperialistischen Kolonialmächte und die weiße Siedlergesellschaft Nordamerikas gleich, womit sie die Verantwortung Europas für seine ungeheuren Verbrechen relativiert. Wie Karin Priester (2003) glänzend herausarbeitete, paart sich in der „modernen“ Variante des Umgangs mit Indigenen eine rassistische Ideologie mit ökonomischen und politischen Herrschaftsinteressen in einer historisch neuartigen Weise. Die historisch viel älteren Phänomene ‚Fremdenfeindlichkeit‘ (bei den Römern am Begriff des „Barbarentums“ festzumachen) bzw. ‚Ethnozentrismus‘ werden nach der sog. Entdeckung Amerikas von einer rational kalkulierten politischen Machtstrategie der besitzenden Klassen Europas abgelöst. Diese vereint einen unerschütterlichen Glauben an die pseudo-wissenschaftlich unterlegte genetische Überlegenheit der eigenen Gens mit dem Streben nach Profit.

Der Autor der Rezension, Hans-Jürgen Kleine, lebt in der Region Köln. Er ist seit vielen Jahren umweltpolitisch aktiv und engagiert sich bei Attac und im Netzwerk-Ökosozialismus.