Flüchtlinge, Klimakrise und die rechtem Parteien

NEIN zur Politik der Unmenschlichkeit

Paul Michel

Die Wahlen in Hessen und Bayern endeten Anfang Oktober, wie es zu befürchten war: Mit großen Zugewinnen für die AfD und starken Verlusten für die Ampelkoalition und die Linke.

Etablierte Parteien und der Höhenflug der AfD


In den Wochen davor verging kaum ein Tag, an dem nicht ein Bild der Apokalypse heraufbeschworen wurde, die von einer Flüchtlingswelle gigantischen Ausmaßes drohen würde. Zwischen den Parteien herrschte und herrscht geradezu ein Über-bietungswettbewerb um die brutalsten und menschenfeindlichsten Vorschläge. Es fällt schwer, Unterschiede in der Rhetorik von SPD, FDP und AfD auszumachen. Zwischen CDU/CSU und AfD gibt es in Sachen Umgang mit Flüchtlingen schon lange keine „Brandmauer“ mehr. Alle, von den Ampelparteien, über die CDU/CSU bis zur AfD sind sich einig, dass jetzt endlich „gehandelt“ werden müsse: Abschottung Europas, Abschaffung oder zumindest Beschneidung des Asylrechts bis zur Unkenntlichkeit. Schleifung bestehender Rechte zum Schutz gegen Abschie-bungen, Internierung potentieller Flüchtling in gefängnisähnlichen Lagern in Nordafrika unter unmenschlichen Bedingungen, Push-Backs von Flüchtlingsbooten im Mittelmeer mittels des Einsatzes der Marine. Befeuert wurde diese Politik der Unmenschlichkeit Tag für Tag durch eine mediale Berichterstattung, die sich das verantwortungslose Gerede der Politiker zu eigen machte und durch Unterschlagung von Fakten und Unterlassung naheliegender Fragen daran mitwirkte, dass die Wirklichkeit zu den Vorurteilen passend umfrisiert wurde.

 

Fluchtgrund Armut:

Kein Thema ist dabei, warum die Menschen ihre Heimat verlassen. Man tut so, als ginge uns die Armut Afrikas nichts an. Aber offenkundig sind die Handelsbeziehungen zwischen der EU und den Ländern Afrikas für letztere sehr nachteilig. Nach wie vor überschwemmt billiges hochsubventioniertes Hähnchenfleisch aus der EU zu Dumpingpreisen die Märkte in West- und Zentralafrika und treibt dadurch die lokalen Bauern in den Ruin.
Die industrielle, internationale Hochseefischerei sorgt für die absolute Überfischung der Weltmeere, unter anderem vor den Küsten Westafrikas. Die nachhaltige lokale Kleinfischerei, welche unter anderem zur Ernährungssicherheit afrikanischer Länder beitrug, fischt nunmehr im Trüben, das heißt, sie hat im Wesentlichen mehr Plastikmüll in ihren Netzen als essbaren Fisch.
Reiche Bodenschätze, arme Bevölkerung. Unter diesem Widerspruch leiden viele Länder in Afrika. Gewinne werden von internationalen Konzernen abgeschöpft, die ansässige Bevölkerung geht leer aus. Zum Beispiel im Niger, eines der ärmsten Länder des Kontinents. Französische Konzerne beuten dort unter katastrophalen Umweltbedingungen Uranerz aus, und hinterlassen Abraumhalden, von denen radioaktiver Staub großflächig verteilt wird. Im Lande bleibt von dem Reichtum kaum was hängen außer erheblich erhöhten Lungenkrebsraten. Die Weiterverarbeitung von Rohstoffen, die Einkommen schaffen könnte, findet in anderen Weltregionen statt. Ben Burgis, der Autor des Buches „Der Fluch des Reichtums“ stellt fest: Die reichen Staaten tun so, als ginge die Armut Afrikas sie nichts an. Das Gegenteil ist richtig: Wir sind reich, weil Afrika arm ist.

Fluchtgrund Klimawandel:

Der Beitrag Afrikas zur globalen Erwärmung ist mit zwei bis drei Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen geringfügig. Aber kaum eine Weltregion ist so stark von den Folgen des Klimawandels betroffen wie Afrika. Fluten, Hitzewellen, Dürren – Afrika gehört zu den am stärksten vom Klimawandel betroffenen Regionen der Welt. Die klimatischen Veränderungen haben insgesamt negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung und Ernährungssicherheit, zerstören zahllose Existenzen in der Landwirtschaft und zwingen die Menschen, ihre Dörfer zu verlassen. Aber: Aus naheliegenden Gründen ist das für unsere Medien kein Thema.


Deutsche Kommunen an der „Belastungsgrenze“?


Fast jeden Tag fand sich ein Bürgermeister, der verkündete, dass seine Gemeinde am Rand ihrer Möglichkeiten stehe. Dabei wurde die angebliche Dramatik der Lage oft gnadenlos übertrieben. Dazu stellt Boris Kühn, einer der Autoren der lesenswerten Studie „Kommunale Unterbringung von Geflüchteten – Probleme und Lösungsansätze“, fest: „Unsere stich-probenartige Recherche zum Stand der Unterbringung ergibt kein einheitliches Bild. Die Spanne reicht von einem öffentlich beklagten Notstand bis zu relativ entspannten Situationen. Wie gut Kommunen aktuell noch zurechtkommen, hängt auch davon ab, wie aktiv und konstruktiv sie vorgehen, etwa bei der Suche nach Wohnungen.“
Seine kommunalen Gesprächspartner*innen, so Boris Kühn, weisen zugleich auf weitere Fehler bei der Unterbringung der letzten Jahre hin. So seien viele Unterkünfte, die 2015/16 eingerichtet wurden, in den Folgejahren, als die Zahl der Asylsuchenden zurückging, aus Gründen der Kostenersparnis 2017 wieder geschlossen worden. Ein zweiter Grund für die aktuell hohe Auslastung der Unterkünfte ist, dass es in vielen Gegenden sehr lange dauert, bis Geflüchtete aus der Unterbringung in eigene Wohnungen umziehen können. „Es hängt viel davon ab, dass die Menschen zügig aus den Unterkünften heraus-kommen, um Platz für neue Ankommende zu schaffen. In manchen Kommunen, auch in NRW, sind die Unterkünfte zu etwa 25 Prozent von Menschen belegt, die seit der Krise 2015/16 dort leben.“ (Boris Kühn, Interview mit der WAZ vom 05.10.2023). Hier ist vor allem der fehlende bezahlbare Wohnungsraum ein Problem. Bereits 2015/16 war es ein Thema, aber in der Zwischenzeit ist von Seiten der Bundes-regierungen nichts passiert. Die Bilanz der Ampel ist, wie die ihrer Vorgängerregierungen, in Sachen bezahlbaren Wohnraums verheerend.

Lindners Einheit von Sparpolitik und Rassismus

Als sich im Herbst letzten Jahres abzeichnete, dass die Flüchtlingszahlen wieder ansteigen, forderten die Finanzminister der Länder von Bundesfinanzminister Christian Lindner mehr Geld für die Aufnahme von Geflüchteten. Lindner erklärte kategorisch, dass er nicht bereit ist, zusätzliches Geld für die Unter-bringung von Geflüchteten bereitzustellen. Laut Bremer Finanzressort hatte der Bund zuletzt angeboten, sich ab 2024 jährlich mit 5.000 Euro pro Geflüchtetem zu beteiligen. Nach Meinung von Fachleuten liegen die Kosten im bundesweiten Durchschnitt bei etwa 13.000 Euro. Schleswig-Holsteins Finanzministerin Monika Heinold (Grüne) benennt ein weiteres Problem: „Es braucht dringend die Zusicherung einer dauerhaften und an den Flüchtlingszahlen orientierten Finanzierung vom Bund.“ Boris Kühn sagt, „dass man bei dem Thema endlich mal eine nachhaltige Finanzierungslösung braucht. Damit man nicht jedes Mal neu verhandeln muss. Denn dann kommen wieder einmal hunderttausend Geflüchtete mehr, und dann muss man wieder um mehr Geld bitten. Es müsste ein Finanzierungssystem geben, das automatisch hoch und runter fährt mit dem Anstieg und dem Rückgang der Flüchtlingszahlen – dann könnte man sich auch diese ganzen sogenannten Flüchtlingsgipfel sparen.“
Der Finanzminister will davon nichts wissen. „Ich sehe die Aufgabe der Bundesregierung eher dort, die Rückführung von Menschen ohne Aufenthaltsrecht zu verbessern und ungeregelte Migration zu bremsen.“ Diesen Standpunkt machten sich auch die anderen Parteien der Ampelregierung zu Eigen. Seither erklärt die Bundesregierung bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, dass die Festung Europa gegen Flüchtlinge weiter ausgebaut werden muss.
Die aktuelle Eskalation der rassistischen Debatte, in der sich Politiker*innen mit Gesetzesverschärfungen und Vorschlägen für die Drangsalierung von Geflüchteten überbieten, ist Ausdruck des Bedürfnisses der bürgerlichen Parteien und der Kapitalist*innen nach einem Sündenbock. Wenn man Geflüchtete für hohe Mieten verantwortlich macht, lenkt man von der Rolle der Immobilienkonzerne ab, die die Mieten erhöhen um Profit für ihre Aktionär*innen zu erzeugen. Forderungen nach geschlossenen Grenzen und Abschiebungen sind den Herrschenden natürlich viel lieber als nach Enteignung der Konzerne. Damit wird auch davon abgelenkt, dass der soziale Wohnungsbau in den 1990er-Jahren unter Kohl und Schröder weitgehend abgeschafft wurde. Seitdem ist die Zahl der Sozialwohnungen von vier auf rund eine Million gesunken und schrumpft jedes Jahr weiter. Die Wohnungsnot ist ein Produkt des Kapitalismus, nicht der Migration. Bezeichnenderweise spricht niemand aus dem Lager der etablierten Parteien davon, dass die 100 Milliarden, die praktisch im Schnelldurchgang für die Hochrüstung der Bundeswehr beschlossen wurden, Unsinn sind und dass das Geld stattdessen für bezahlbare Wohnungen verwendet werden sollte. Niemand spricht davon, dass große Summen zur Verfügung stünden, wenn die zahlreichen Steuergeschenke für die Reichen zurückgenommen werden.

2021-09-21 Christian Lindner 1069.JPG Foto: Michael Lucan, Lizenz: CC-BY-SA 3.0 de

Block der fossilen Betonköpfe von der FDP bis zur AfD


Bei der Frage des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap „Welches Thema spielt für Ihre Wahlentscheidung die größte Rolle?“ landete „Klima und Energie“ laut ARD in Hessen auf dem zweiten, in Bayern immerhin auf dem dritten Platz. Und zulegen konnten besonders Parteien, die weniger Klimaschutz fordern. Die Haltung der AfD zum Klimaschutz ist überschaubar: Ja zu fossiler Energie und zur Kernkraft – Nein zur Windenergie. In der Kampagne gegen „Habeck‘s Heizungshammer“ gab allerdings nicht die AfD, sondern ein Bündnis von fossilen Betonköpfen aus dem bürgerlichen Lager (Lobbyisten der Gaswirtschaft, Springermedien, CDU/CSU) den Ton an. Sie nutzten den Umstand, dass das Projekt Wärmewende von Anfang an eine Sollbruchstelle hatte: die fehlende finanzielle Abfederung. Diese soziale Ignoranz war Wasser auf die Mühlen der rechten Kräfte, die in der Klimapolitik die Position vertreten: Nach uns die Sintflut. Das ermöglichte den Kräften, die bekanntermaßen Seelsorger für die Anliegen der besser Betuchten sind, sich als Fürsprecher der sozial Schwachen zu kostümieren. Ein wahres Bombardement an Fake News und Verkürzungen wurde abgefeuert, das durchaus Wirkung zeigte. Bei den Wahlen war es dann aber wohl doch die AfD, die die Früchte des von bürgerlich rechten Kräften inszenierten Kulturkampfes um das Heizungsgesetz einfahren konnte.


„Die fetten Jahre sind vorbei“-

Bundesfreiwilligendienste minus 26 Prozent, Wohngeld minus 16 Prozent, Freie Jugendhilfe minus 19 Prozent, psychosoziale Zentren minus 60 Prozent, Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer minus 30 Prozent, Asylverfahrensberatung sowie besondere Rechtsberatung für queere und sonstige verwundbare Geflüchtete minus 50 Prozent.
Das ist nur ein kleiner Teil der Sparmaßnahmen die der Haushalt der Ampelregierung für 2024 vorsieht. Im kommenden Jahr will die Ampel rund 30 Milliarden Euro weniger ausgeben als in 2023, die Gesamtausgaben sollen von rund 476 Milliarden auf rund 446 Milliarden Euro schrumpfen. Lindners Ansage lautet: „Die fetten Jahre sind vorbei“. Christian Lindner sieht den Entwurf des Bundeshaushalts 2024 als lediglich als Einstieg in umfassende „Konsolidierungsmaßnahmen“. Der Etatentwurf sei „nur der Beginn einer Trendumkehr“ in Richtung „haushaltspolitischen Normalität“, sagte er. Lindner hat eine „finanzpolitische Zeitenwende“ ausgerufen und lässt keinen Zweifel daran, wem sie zugutekommen wird: den privaten Investitionen, also der Kapitalrendite.
Die Führung der CDU, die im Unterschied zu Lindner keine Rücksicht auf Koalitionspartner nehmen muss, spricht bereits offen, um was es ihr geht: Eine „Agenda 2030“. Das knüpft inhaltlich und rhetorisch an die „Agenda 2010 an, jenes Maßnahmenpaket mit dem die Regierung Schröder/Fischer eine brutale Umverteilung zu Lasten der Mehrheit der Bevölkerung zu Gunsten der reichen Minderheit auf den Weg brachte. Kommen Leute wie Merz und Lindner, die hier Brüder im Geiste sind, mit ihren Plänen durch, bedeutet das für die Mehrheit der Bevölkerung eine weitere soziale Katastrophe.

Tim Reckmann CC-BY-2.0

Ökosozialismus oder Highway to Hell

Dabei bräuchten wir dringend ein Mehr an staatlichen Mitteln. Nicht nur für sozialen Wohnungsbau oder Bildung, für eine solide und krisensichere Gesund-heitsversorgung, für armutssichere Renten, kostenlosen Kitas und die Integration der Flüchtlinge. Sondern nicht zuletzt auch für den Klimaschutz und den grundlegenden Umbau von Energieversorgung, Verkehr und Industrie.
Alle Klimaforscher sind sich einig, dass sich die Entwicklung in Richtung Klimakatastrophe beschleunigt hat. Die nächsten paar Jahre werden entscheidend dafür sein, ob die Erderwärmung noch auf 1,5 Grad beschränkt und das Sterben von Millionen Menschen, Hundertmillionen Arten und die Verödung ganzer Erdregionen noch verhindert oder zumindest spürbar abgebremst werden kann. Im Zentrum unserer Bemühungen muss die Verhinderung oder zumindest die deutliche Abschwächung der Klimakatastrophe stehen. Alle ergriffenen Maßnahmen sind daran zu messen, ob sie einen Beitrag zur Reduzierung der Treibhausgase bringen.
Notwendig ist der schnelle Umbau der Gesellschaft weg von fossilen hin zu nachhaltigen Strukturen. Das betrifft fast alle wichtigen industriellen Sektoren und Teile der gesellschaftlichen Infrastruktur. Allen voran die Autoindustrie, die Chemieindustrie, die Stahlindustrie, die Aluminiumindustrie, die Zement-industrie usw. Die gesamte Energieversorgung muss auf erneuerbare Energien umgestellt werden. – Es braucht eine radikale Verkehrswende weg vom Auto hin zu öffentlichen Verkehrsmitteln und Fahrrad. Der gesamte Wohnungsbau muss energetisch saniert und die Heizung muss mit erneuerbaren Energien erfolgen.
Das erfordert gewaltige Investitionen von Seiten der öffentlichen Hand. Die dazu erforderlichen Finanz-mittel sind in der Gesellschaft vorhanden, befinden sich aber im Zugriff der superreichen Minderheit der ein Prozent, die nur dann investiert, wenn die Rendite stimmt. Geld zu investieren, ohne dass ein satter Gewinn rausspringt, ist nach der Logik der Kapitaleigner und ihrer politischen Sachverwalter schlicht Verschwendung. Mit ihnen ist deshalb der notwendige ökosoziale Umbau der Gesellschaft nicht zu machen.
Es ist ein radikaler Bruch mit der bisher praktizierten Form kapitalistischen Wirtschaftens erforderlich. Eines ist klar: Wenn weiter Leute wie Lindner, Merz, Habeck oder Scholz, die als Sachverwalter der reichen, mächtigen Minderheit agieren, das Heft in der Hand haben, fährt der Karren gegen die Wand. Oder um im Bild zu bleiben: Wenn wir ihren Vorstellungen folgen, begeben wir uns auf einem „Highway to Hell“.