Licht und Schatten

… bei Klaus Dörres „Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution“

Paul Michel

Während es in den USA bereits seit einigen Jahren eine entwickelte Diskussion darum gibt, wie die Alternative zum Wahnsinn des real existierenden Kapitalismus aussehen könnte und dabei keine Scheu besteht, das „S-Wort“, Sozialismus, aufzugreifen, gab es hierzulande bisher allenfalls schüchterne Ansätze. Das aktuelle Buch von Klaus Dörre kommt recht selbstbewusst daher – und das ist gut so.

Klaus Dörre (32627310945).jpg, Ersteller: Stephan Roehl | Credit: Stephan Roehl, CC-BY-SA 4.0

Denkanstöße

Klaus Dörre nimmt im Kapitel „Effizienz: Demokratische Planung, humane Arbeit, befreites Leben“ ausführlich Bezug auf Pat Devine und Marcel Laibman. Der britische Marxist Pat Devine hat Ende der 1980er Jahre, in der Zeit der Reformen von Gorbatschow, Grundzüge eines Modells für eine partizipative Wirtschaft, jenseits von Markt und stalinistischer Kommandowirtschaft, skizziert. Er nannte dieses System, bei dem der Entscheidungsfindung die Ausregelung der vorhandenen Interessengegensätze vorausgeht,
„demokratische Planung auf der Grundlage von vereinbarter Koordination“.

In Pat Devines Modell demokratischer Planung nimmt die Planung die Form eines politischen Prozesses ausgehandelter Koordination an. Weit gefasste Wirtschaftsvorgaben – die solche Fragen abdecken wie Energie- und Verkehrspolitik oder bestimmte Umweltprioritäten – werden auf nationaler Ebene von einer gewählten repräsentativen Versammlung auf der Grundlage verschiedener alternativen von Experten entwickelter Pläne beschlossen. Innerhalb dieses Rahmens wird allerdings das Gros der wirtschaftlichen Entscheidungen dezentral getroffen. Die wirtschaftliche Macht, so Dörre, wird an Koordinierungskörperschaften übertragen, die für einzelne Branchen zuständig sind und in denen Delegierte der Belegschaften, Konsumenten, Zulieferer, Abnehmer, relevanter
Regierungskörperschaften und betroffener Interessensgemeinschaften sitzen. Diese Koordinierungskörperschaften würden gewährleisten, so Devine, dass Wirtschaftsentscheidungen bewusst gemeinsam im Lichte der Gesamtsituation von allen davon Betroffenen getroffen werden.

Umstrukturierung zentraler Sektoren

Im Kapitel „Demokratische Planung, humane Arbeit, befreites Leben“ arbeitet sich Dörre an einigen wichtigen Schlüsselsektoren der Gesellschaft ab. Hinsichtlich des Finanzsektors kommt Dörre zu der Schlussforderung: „Um das zu ändern, muss das Machtzentrum des Finanzkapitalismus zerschlagen und der Bankensektor mit seinen verbleibenden Funktionen in öffentliches Eigentum überführt werden.“ Dieser Aussage ist unbedingt zuzustimmen. Was seine konkreten Ausführungen anbelangt, bleibt Dörre leider sehr im Vagen. Als Grundlage für die vertiefte Debatte um die notwendige Vergesellschaftung des Finanzsektors würde ich eher einen Aufsatz von Axel Troost aus dem Jahr 2011 mit dem Titel: „Den Bankensektor neu ordnen – und mit der Vergesellschaftung beginnen“ empfehlen. Troosts Text ist sehr konkret, sehr anschaulich und macht eine Reihe konkreten Vorschlägen dazu, wie relevante Geschäftsbanken vergesellschaftet werden könnten.

Bei den Ausführungen Dörres über den Verkehrssektor vermisse ich eine klare Aussage für eine Verkehrswende weg von der Straße hin zu Bus, Schiene und Fahrrad. Nach einer Verkehrswende hin zu einem öffentlichen Verkehr mit Bahn Bus und Fahrrad werden sicherlich deutlich weniger PKWs und LKWs benötigt als heutzutage. PKWs werden wohl noch in Gestalt von E-Taxis oder kommunalen Autopools benötigt, um für die Menschen auf dem flachen Land Mobilität zu ermöglichen, als Dienstfahrzeuge für Servicetechniker*innen oder mobile Dienste. LKWs braucht man/frau wohl noch für die Überbrückung der „letzten Meile“, nachdem der Mittel- oder Langstreckentransport auf der Schiene oder auf dem Wasser erfolgt ist. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Fertigung von PKWs. In den heutigen Autofabriken muss die Produktion von PKWs deutlich heruntergefahren werden. Bis auf einige Sonderfahrzeuge werden nur Kleinwagen benötigt.
Protzige Sportwagen und SUVs braucht es nicht.

Für die vertiefte Auseinandersetzung dazu wie ein Umbau der Autoindustrie hin zur Produktion von nützlichen Dingen wie Bussen, Straßenbahnen und Zügen angegangen werden kann, empfiehlt sich das Stephan Krull und Mario Candeias herausgegeben Buch „Spurwechsel – Studien zu Mobilitätsindustrien, Beschäftigungspotenzialen und alternativer Produktion“

Zangenkrise und fossiler Kapitalismus

Dörre spricht von einer „ökonomisch – ökologischen Zangenkrise“, in der wir uns befinden. Das ist sicherlich richtig. Aber auch dieser Abschnitt leidet unter einem Mangel an Konkretisierung und Anschaulichkeit. Ich empfehle zur vertiefenden Diskussion dieser Problematik das Buch des kanadischen Marxisten Ian Angus: „Im Angesicht des Anthropozäns – Klima und Gesellschaft in der Krise“. Ian Angus beschreibt unheimlich anschaulich, wie der Kapitalismus ein fossiler Kapitalismus wurde – zunächst über den Einsatz von Kohle und Dampf.
Dann tritt billigeres Erdöl als Energiebasis und Schmiermittel in den Vordergrund. Für die notwendige Diskussion über die Umstrukturierung von Industriestrukturen liefert Ian Angus reichlich Anschauungsmaterial. Er arbeitet heraus, dass der Aufstieg der Autoindustrie und der industriellen Chemie in ihren verschiedenen Spielarten maßgeblich für die „Große Beschleunigung“, die exponentielle Steigerung des CO2 Ausstoßes, verantwortlich sind. Die Automobilisierung und die Plastikplage sowie der extensive Einsatz von Dünger und Pestiziden in einer zunehmend industrialisierten Landwirtschaft sind es denn auch, deren nachhaltige Umstrukturierung auf unserer To-Do-Liste ganz Oben stehen muss. Sie alle haben ihre Wurzeln im Nachkriegsboom.

Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten

„Heutzutage gehören die Karten auf den Tisch. Zumindest die Umrisse einer nachhaltig sozialistischen Gesellschaft müssen so klar wie möglich gezeichnet werden, damit alle wissen, worauf sie sich einlassen, wenn vom Sozialismus der Zukunft die Rede ist.“ so Klaus Dörre zu Beginn des Kapitels 7, in dem er verspricht, die Konturen nachhaltig, sozialistischer Gesellschaften zu entwickeln.
Er spricht sich für „Wirtschaftsdemokratie“ aus, erläutert aber nicht, wie diese konkret ausgestaltet sein soll. Wenn ich das Wort Wirtschaftsdemokratie“ höre, fällt mir das Konzept der sogenannten Wirtschaftsdemokratie ein, das in der Weimarer Republik ein politischer Gassenhauer von Sozialdemokratie und ADGB-Führung war. Deren Politik war nicht darauf angelegt, den Kapitalismus zu überwinden, sondern den Arzt am Krankenbett des Kapitalismus zu spielen. Das Konzept der „Wirtschafts- demokratie“ hatte dementsprechend damals nie praktische Relevanz, obwohl SPD und ADGB damals die stärksten Organisationen der Arbeiterbewegung waren.

Befremdlich ist für mich auch, wie gut bei Dörre das Stiftungseigentum wegkommt. „Das Stiftungsunternehmen ist ebenfalls eine Form, die dem Prinzip des kollektiven Selbsteigentums bereits unter kapitalistischen Bedingungen Rechnung trägt. Der Übergang zu solchen Eigentumsverhältnissen ließe sich verhältnismäßig einfach bewerkstelligen, wenn der politische Wille dazu vorhanden wäre. So könnten Staatshilfen für private Unternehmen mit Verfügungsrechten für Beschäftigte oder gesellschaftliche Fonds bezahlt werden. Sobald dergleichen geschähe, würde die Sozialisierung von Entscheidungsmacht mittels Internalisierung von Sozialkosten, die die kapitalistische Produktionsweise verursacht, zu einem Prozess, der einer Revolution ohne einmaligem Akt der Machtergreifung gleichkäme.“ (S. 126) Soweit der schönen Worte.
Aber wie sieht es konkret aus? Sowohl ZF in Friedrichhafen als auch Mahle und Bosch in Stuttgart, also drei der großen Autozulieferer, sind Stiftungsunternehmen. Will uns Klaus Dörre ernsthaft erzählen, dass diese Firmen, die sich derzeit durch heftigen Personalabbau und auch Betriebsschließungen hervortun, Keimzellen des Sozialismus sind?
Ähnliches gilt für die „Transformationsräte“ Die sind zurzeit besonders in gewerkschaftlichen Kreisen hoch im Kurs- als inhaltslose Leerformel.Leider konkretisiert auch Klaus Dörre nicht, was er damit meint. Ein Blick auf die Webseite des IG Metall Bezirks Mitte gibt einen Eindruck davon, was „Transformationsräte“ real für die IG Metall beinhaltet: „Auf Initiative der IG Metall wurde Ende des Jahres 2019 durch Ministerpräsidentin Dreyer der Transformationsrat Rheinland-Pfalz gegründet. Das Gremium setzt sich aus Vertretern der Landesregierung, der Gewerkschaften IG Metall und IG BCE sowie des DGB, der Landesvereinigung der Unternehmerverbände Rheinland-Pfalz (LVU), der Handwerkskammern, der Industrie- und Handelskammern sowie der Bundesagentur für Arbeit zusammen. Im Rahmen dieses Gremiums wird über notwendige Maßnahmen zum Erhalt und Ausbau industrieller Wertschöpfung sowie zur Qualifizierung und Weiterbildung der Beschäftigten beraten.“ 3) Ist es wirklich das, was Klaus Dörre bei Transformationsräten vorschwebt? Mitbestimmung oder Bruch?
Bei seinen Aussagen über die Sozialisierung von Großunternehmen startet Dörre als Tiger: „Die
Begrenztheit des Erdballs, seiner Ressourcen und Lebewesen steht der Möglichkeit zu fortgesetzter unendlicher Marktexpansion entgegen. Deshalb muss es in den Großunternehmen zu einem Bruch mit dem kapitalistischen Besitz als dynamischem Prinzip kommen.“ (s. 125) Er formuliert: „Nachhaltig sozialistische Gesellschaften benötigen kollektives Selbsteigentum.“ Wenn es um die Konkretisierung geht, wechselt Dörre in eine deutlich weniger radikale Tonlage. Formen kollektiven Selbsteigentums sind für ihn: Wohnkooperativen, Energie – und Agrargenossenschaften, Mitarbeitergesellschaften und Einrichtungen der solidarisieren Ökonomie.
Zuletzt tauchen auch hier wieder die Stiftungsunternehmen auf. Und so soll laut Dörre die Sache von statten gehen. „ Der Übergang zu solchen Eigentumsverhältnissen ließe sich, so Dörre verhältnismäßig leicht bewerkstelligen, wenn der politische Wille vorhanden wäre. So könnten Staatshilfen für private Unternehmen mit Verfügungsrechten für Beschäftigte oder gesellschaftliche Fonds bezahlt werden.“ Hat Dörre nicht wahrgenommen, wie das in der realen deutschen Klassengesellschaft läuft? Etwa bei der Lufthansa. Dort hat uns Lufthansa –Chef Carsten Spohr Bosse sehr eindrücklich vorgeführt, wie große Konzerne mit stattlichen staatlichen Rettungspaketen umzugehen pflegen. Spohr weigerte sich strikt, dem Staat im Gegenzug zu 9 Milliarden staatlicher Rettungsspritze irgendwelche Einflussrechte auf die Geschäftspolitik der Lufthansa einzuräumen. Und was sagte damals der zuständige Minister Peter Altmaier dazu? „“Der Staat sollte sich da raushalten, er ist kein guter Unternehmer.“ Die Frage an Klaus Dörre wäre: Was soll denn Deiner Meinung nach passieren, damit bürgerliche Regierungen sich so verhalten, wie es Klaus Dörre sich wünscht, und machtbewusste Manager sich so einfach die Butter vom Brot nehmen lassen?
Auch Dörres Verweis auf die Mitbestimmung („Auf der Ebene von Arbeitsprozessen kann an Konzepte einer Mitbestimmung am Arbeitsplatz angeknüpft werden.“) kommt mir reichlich weltfremd vor. Vielleicht sollte Dörre ernsthaft darüber nachdenken, was die Bertelsmann-Stiftung und die gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in Bezug auf die in der BRD real existierende Mitbestimmung festgestellt haben: „Das Mitbestimmungsgesetz von 1976 hat in der Praxis, entgegen derzeitigen Befürchtungen, die Eigentumsrechte der Kapitaleigner grundsätzlich nicht eingeschränkt. Die Strategie der Unternehmen, die der Mitbestimmung unterliegen, wird von ihren Vorständen und Anteilseignern bestimmt und nicht von den Arbeitnehmerver- tretern.“ Und ansonsten wäre Dörre zu empfehlen noch mal ein altes Buch seines Kollegen Frank Deppe aus dem Jahr 1973 noch mal zu Gemüte führen:
„Kritik der Mitbestimmung – Partnerschaft oder Klassenkampf?“ 4)

Es geht auch anders

Wenn es darum geht, die Gesellschaftsstruktur radikal umzuwälzen, ist es nützlich, an bestimmte Erfahrungen andocken zu können, die Anregungen für unser Vorhaben geben können. Leider ist Dörres Blickwinkel verengt auf Überlegungen und Modelle linkssozialdemokratischer Provenienz, die sich in der einen oder anderen Form mit der Mitbestimmung zu tun haben. Wichtige konkrete Erfahrungen der Selbstermächtigung, wo Arbeiterinnen und Arbeiter auf Betriebsebene oder auf Regionsebene, in Fabrikräten, mittels Arbeiterkontrolle, mit Betriebsbesetzungen oder auf Landesebene wie in der jugoslawischen Arbeiterinnenselbstverwaltung das Heft aus der Hand genommen haben, scheinen für Dörre gar nicht zu existieren.

Ich würde empfehlen hier sich mit drei Beispielen zu befassen

1) Mit der besetzten Keramikfabrik FaSinPat (früher Zanón) in Nequem, dem nördlichsten Teil der argentinischen Provinz Patagonien, wo es keine Chefs mehr gibt und der Laden trotzdem läuft
2) Mit dem „roten Sommer der Anarchie“ 1936 in Katalonien, wo die Beschäftigten in fast allen Industriebetrieben das Heft selbst in die Hand nahmen.
3) Mit der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien im ersten Jahrzehnt nach dem Bruch mit Stalin 1948.

Anmerkungen:

1) Den Bankensektor neu ordnen – und mit der Vergesellschaftung beginnen“ in Michael Brie, Richard Detje, Klaus Steinitz: Wege zum Sozialismus im 21. Jahrhundert, Hamburg 2011

2) Ian Angus: „Im Angesicht des Anthropozäns – Klima und Gesellschaft in der Krise“, Münster 2020

3) https://www.igmetall-bezirk- de/transformation/transformationsrat- rheinland-pfalz

4) Frank Deppe, Jutta von Freyberg, Christof Kievenheim, Regine Meyer, Frank Werkmeister: Kritik der Mitbestimmung, Partnerschaft oder Klassenkampf?