Das Kapitalistische System ist eine systemische Krankheit

Ian Angus

Ian Angus ist der Herausgeber der Webseite »Climate and Capitalism« und Gründungsmitglied des „Ecosocialist International Network“ Er lebt in Canada. Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die Mitschrift einer Rede mit dem Titel „Why ecosocialism: The global fight for a red-green future“, die Ian Angus am 23. Oktober auf einer Konferenz der australischen Organisation „Socialist Alliance“ gehalten hat. Überschrift und Zwischenüberschrift wurden vom Übersetzer vorgenommen. Die Rede wurde leicht überarbeitet.

Die Proteste der Studentenstreiks und von Extinction Rebellion von heute, 23. Oktober, sind große Schritte in die richtige Richtung. Diese Aktivisten bauen eine unabhängige radikale Gegenmacht auf der Straße. Öko-Sozialisten unterstützen sie voll und ganz bei dieser absolut notwendigen Anstrengung.

Ganz anders sieht es aus mit den liberalen Grünen, deren ganzes Augenmerk darauf gerichtet ist, Lobbyarbeit für unsere Herren zu machen, die für uns die Krise lösen sollen. Sie haben große Angst, kapitalistische Politiker und Konzernchefs zu verärgern. Typischerweise bestehen Umweltliberale darauf, dass der beste Weg, wenn gar nicht der einzige Weg, den Klimawandel zu stoppen, darin besteht, einen Preis für CO2 zu erheben, normalerweise in Form einer Erhebung von Steuern auf fossile Brennstoffe. Die Theorie besagt, dass die Emissionen sinken, wenn die Preise hoch gehen. Kein Thema für die Anhänger dieser Theorie ist die Tatsache, dass die Ölpreise in den letzten 50 Jahren stark gestiegen sind, gleichzeitig aber auch Produktion und Emissionen deutlich in die Höhe gegangen sind. Anstatt auf alternative Energiequellen umzusteigen, als das Öl teuer wurde, stieg die Ölindustrie in neue Felder der Ölförderung, nämlich in Fracking und den Abbau von Teersanden ein.

Planetarischer Notfall

Trotzdem glauben viele aufrichtige Grüne, dass wir mit ein paar marktkonformen Maßnahmen die Welt reparieren können. Unglücklicherweise bringt uns solches Wunschdenken nicht weit. Es gibt kein einziges Problem, das sich durch ein paar kleinere steuerliche Eingriffe lösen ließe. Die sich vor uns auftürmenden ökologischen Krisen, die das Überleben der Zivilisation tatsächlich bedrohen, lassen sich nicht durch ein paar Änderungen im Steuersystem bewältigen. Der Klimawandel ist natürlich der extremste und unmittelbarste Ausdruck eines Notstands des Planeten. Wir sind zudem mit Superstürmen, steigenden Meeresspiegeln, massiven Waldbränden, giftiger Luft und Smog, Ozeanversauerung und toten Zonen, Artensterben, Bodenerosion, Süßwassermangel, Ozonzerstörung, unzerstörbaren Kunststoffen und chemischer Verschmutzung, Abholzung, Ausbreitung von Wüsten, antibiotikaresistenten Bakterien und neue Krankheiten und Seuchen konfrontiert. Und diese Liste ließe sich fast unendlich weiter führen.

Wir haben es mit einem planetarischen Notfall zu tun! Womit wir konfrontiert sind, sind keine Einzelprobleme, die durch bescheidene Reformen und kleinere politische Veränderungen behoben werden können. Es handelt sich um eine Reihe komplexer und ineinandergreifender Störungen jener natürlichen Prozesse, die die Erde seit Tausenden von Jahren bewohnbar gemacht haben.

Vor 12 Jahren, im Jahr 2009, identifizierte ein Team von 28 international renommierten Wissenschaftlern neun planetarische Grenzen, die das beschreiben, was einen so genannten sicheren Lebensraum für die Menschheit ausmacht. Das Überschreiten einer dieser Schwellen, so schrieben sie, könnte katastrophale Folgen für das Wohlergehen der ganzen Menschheit haben. Als sie im Jahr 2015 ihren Bericht aktualisierten, stellten sie fest, dass wir bei sieben der neun kritischen planetaren Grenzen nahe oder bereits in der Gefahrenzone liegen.
Etwas ist schrecklich schief gelaufen mit der Beziehung zwischen der menschlichen Gesellschaft und der Erde. Allein die Symptome zu bekämpfen, ist gefährlich. Eine Lösung für das eine Problem, kann an anderer Stelle die Probleme verschlimmern. Radikale Abhilfemaßnahmen sind erforderlich. Wir werden keine Heilung finden, wenn wir nicht die den Problemen zugrundeliegende Ursachen angehen: Das kapitalistische System ist die systemische Krankheit, die unsere lebenswichtigen Systeme schwer beeinträchtigt.

Wachstumswahn und Umweltzerstörung

Viele Umweltschützer identifizieren Wachstum als das grundlegende Problem. Und in der Tat, wie viele Bücher und Artikel gezeigt haben, spült der Drang, immer neue Bodenschätze zu fördern, immer mehr Produkte zu schaffen und ständig weiter zu wachsen, immer mehr giftige Stoffe in unsere Flüsse und verpestet unsere Luft. Ozeane sterben, Arten von Lebewesen verschwinden in beispiellosem Tempo, Wasser wird knapp und Böden erodieren schneller, als sie sich erholen können. Aber die Wachstumsmaschine drängt und schiebt immer weiter. Wirtschaftsexperten, Bürokraten und Politiker sind sich einig darin, dass Wachstum gut und Nicht-Wachstum schlecht ist. Die Feier eines endlosen Wachstum ist die Folge einer bewussten Politik, die von Ideologen aller politischen Couleur des bürgerlichen Lagers betrieben wird – von den Sozialdemokraten bis zu den Konservativen. Als sich die G20 vor einigen Jahren in Toronto trafen, waren sie sich absolut einig, dass es für oberste Priorität habe, „den Grundstein für ein starkes nachhaltiges und ausgewogenes Wachstum zu legen“. Die von ihnen abgegebene Abschlusserklärung war nur eine Handvoll Seiten lang. Das Wort „Wachstum“ tauchte darin 29 Mal auf. Das führt zu der Frage: Warum geht das Wachstum weiter und weiter? Warum geht es weiter trotz der überwältigenden Nachweise, dass die Ausweitung der Produktion und des Abbaus der Ressourcen uns umbringt? Unsere Regierungen und Konzerne schaufeln immer weiter Kohle in den Kessel des völlig außer Kontrolle geratenen Wachstumszugs.

Den Menschen in die Gene gegeben?

In den meisten Publikationen von Umweltschützer*innen wird eine der zwei folgenden Erklärungen angeboten: Entweder liegt es in der menschlichen Natur oder am falschen Bewusstsein. Das Argument von „menschlichen Natur“ als Ursache des Übels findet sich überwiegend bei Vertreter*innen der Mainstream-Ökonomie. Sie gehen davon aus, dass der Drang, ständig immer mehr zu wollen, den Menschen gleichsam in die Gene gegeben ist. Es ist demnach eine Grundeigenschaft des Menschen, dass für ihn genug nie genug ist. Der dem Kapitalismus eigene Zwang zum Wirtschaftswachstum ist also nur ein Ausdruck zutiefst natürlicher menschlicher Eigenschaften. Die Befürworter dieser Weltsicht kommen oft zu dem Schluss, dass der einzige Weg, die Plünderung von Mutter Erde zu verlangsamen oder zu stoppen, darin besteht, das Bevölkerungswachstum zu stoppen.

Ihre Logik ist: Mehr Leute bedeutet mehr Waren. Weniger Menschen- das würde als bedeuten, dass weniger Waren produziert werden. Dieser These steht allerdings die Tatsache, dass die Länder mit den höchsten Geburtenraten den niedrigsten Lebensstandard aufweisen, im Widerspruch. Die Menschen in den armen Ländern besitzen die wenigsten materielle Güter und produzieren damit die geringste Umweltverschmutzung. Vor einigen Jahren wurde an der Yale University eine Studie durchgeführt, die zu dem Schluss kam, dass es praktisch keine Verringerung der anhaltenden Umweltzerstörung geben würde, wenn morgen die ärmsten drei Milliarden Menschen nicht mehr da wären.

Wachstum ist für den Kapitalismus so wichtig wie Wasser für den Fisch

Die andere gängige Erklärung für den unmäßigen Drang zum Wachstum ist, dass wir alle Opfer der Verführung durch eine falsche Ideologie sind. Der Wachstumsdrang wird als Fetisch, Obsession, Sucht, sogar als Zauberei beschrieben. Solche Denkschulen erklären das ständige Streben nach Wachstum so, dass Politiker und Investoren unter dem Einfluss einer ziemlich bizarren Besessenheit ihre Entscheidungen treffen.

Wie der britische Marxist Fazi Abraham sagt: Dies wäre das erste Mal in der Geschichte, dass eine grundlegende Notwendigkeit als Fetisch beschrieben wird. Wer meint, dass der Kapitalismus einen Fetisch für Wachstum hat, kann genauso gut sagen, dass Fische als einen Fetisch für Wasser haben. Denn Wachstum ist für den Kapitalismus genauso wichtig wie Wasser für den Fisch. Wie ein Fisch ohne Wasser sterben müsste, würde der Kapitalismus ohne Wachstum jämmerlich eingehen. Ich sehe die Dinge so: Es ist nicht eine wie auch immer geartete Wachstumsideologie, die dem Zwang zur ewigen Akkumulation zugrunde liegt. Die Ideologie rechtfertigt das Wachstum lediglich. Wurzel der globalen Krise ist unkontrolliertes Wachstum. Wachstum ist das unvermeidliche Ergebnis des dem Kapitalismus innewohnenden Drangs, immer mehr Profite zu machen und immer mehr Kapital anzuhäufen. Als Individuen wollen die Menschen, die die riesigen, umweltverschmutzenden Konzerne leiten, zweifellos, dass ihre Kinder und Enkelkinder in einer sauberen, umweltverträglichen Welt leben. Aber als Großaktionäre und Führungskräfte und Topmanager agieren sie – um einen wunderbaren Satz von Marx zu verwenden – als Personifikationen des Kapitals. Unabhängig davon, wie sie sich zu Hause oder ihren Kindern gegenüber verhalten, bei der Arbeit sind sie Charaktermasken des Kapitals in Fleisch und Blut. Die Imperative des Kapitals haben für sie Vorrang vor allen anderen Bedürfnissen und Werten.

Wenn es um die Entscheidung zwischen dem Schutz der Zukunft der Menschheit oder der Maximierung des Gewinns geht, entscheiden sie sich für den Gewinn. Der Grund dafür ist ganz einfach: Obwohl die Auswirkungen sehr komplex und tiefgreifend sind, investieren große Banken, Geldfonds und Multimillionäre letztendlich deshalb, weil sie mehr Geld zurückzugewinnen wollen als sie investiert haben. Es ist ihnen wirklich egal, ob das Unternehmen, in das sie investieren, Autos oder Kleidung oder Schokoriegel herstellt – solange sie eine Rendite mit ihrer Investition erzielen, solange sie mehr herausbekommen, als sie hineingesteckt haben. Unternehmen sind riesige Maschinerien, deren Zweck ist, Kapital in mehr Kapital zu verwandeln – das ist es auch, was Aktionäre wollen und erwarten. Das müssen Manager und Führungskräfte leisten. Ein Manager, der nicht bereit ist, die Renditemehrung stets als oberstes Richtschnur seines Handelns zu machen, wird sich nicht lange als Führungskraft in einem großen Unternehmen halten können. Wenn er beim Screening der Vierteljahresbilanz die Ziele nicht erreicht oder wenn der CEO bei seinen Entscheidungen seinen Gewissensbissen den Vorrang vor der Gewinnmarge gibt, wird er oder sie sich in dieser Position nicht lange halten können.

Die ökologische Tyrannei der Gewinnmarge

Nicht von Ungefähr sprechen wir von der ökologischen Tyrannei der Gewinnmarge. Wenn der Schutz der Menschheit und des Planeten die Gewinne schmälern könnte, geben kapitalistische Unternehmen immer Gewinne den Vorrang. Kapital hat nur einen Erfolgsmaßstab: Wie kann ich in diesem Quartal mehr Gewinn erwirtschaften als im Vorquartal? Es spielt es keine Rolle, ob man seine Geschäfte mit Produkten macht, die Krankheiten verbreiten, Wälder zerstören, Ökosysteme zerstören oder unser Wasser, unsere Luft und unseren Boden zu Jauchegruben und Müllhalden machen. Was zählt ist, ob das Produkt zum Kapitalwachstum beiträgt oder nicht.

Jedes Unternehmen versucht sicherzustellen, dass seine Produkte einen attraktiven Gewinn auf das investierte Kapital erzielen. Ein Unternehmen mit niedrigeren Kosten oder attraktiveren Produkten hat gute Chancen, seine Konkurrenten aus dem Geschäft verdrängen. Es besteht ein ständiger Druck, physisch, finanziell und geografisch zu expandieren, um das Kapital zu erhöhen und damit den Gewinn zu steigern. Wenn nichts es aufhält, wird das Kapital versuchen, sich immer weiter, letztlich unendlich, auszudehnen. Dagegen ist unser Planet nicht unendlich. Die Atmosphäre und die Ozeane und Wälder sind endliche, begrenzte Ressourcen. Der Kapitalismus stößt ständig an diese Grenzen. Eben dies ist das bestimmende Merkmal des kapitalistischen Systems und hier liegt die Wurzel der globalen Umweltkrise.

Massenopposition und öffentlicher Druck können den Drang des Kapitals nach mehr und schnellerer Expansion verlangsamen oder behindern. Aber es wird immer wieder, in der einen oder anderen Weise, versuchen, seine Ziele durchzusetzen.

Der unheilbar kurzfristige Horizont des kapitalistischen Systems

Der Kapitalismus ist wie eine Autoimmunkrankheit, die den Körper angreift, in dem sie lebt. Er ist Teil der natürlichen Welt und zugleich ständig im Krieg mit ihr. Er hängt von den Lebenserhaltungssystemen unseres Planeten ab und untergräbt sie gleichzeitig ständig. Die ökologisch zerstörerischen Auswirkungen des Kapitals werden nicht nur von ihrem Wachstumsbedürfnis, sondern zusätzlich auch von der Notwendigkeit, immer schneller zu wachsen, getrieben. Der Kreislauf von der Investition über den Gewinn bis zur Reinvestition braucht Zeit. Je länger es dauert, desto weniger Gesamtrendite erhalten die Anleger. Es gibt deshalb einen permanenten Druck, den Zyklus zu beschleunigen, also immer schneller von der Investition zur Produktion und dann zum Verkauf zu kommen. 1925 dauerte es 16 Wochen, um ein zweieinhalb Pfund schweres Huhn gut aufzuziehen. Heute werden in sechs Wochen doppelt so große Hühner aufgezogen. Selektive Zuchthormone und chemisches Futter haben es Massentierhaltungen ermöglicht, nicht nur mehr Fleisch, sondern auch immer schneller immer mehr Fleisch zu produzieren. Das Leiden der Tiere und die Qualität unseres Essens sind, wenn überhaupt, von zweitrangiger Bedeutung. Fruchtbares Land wird zerstört, Wälder werden abgeholzt und Fischbestände kollabieren. Alles wegen dem, was der brillante marxistische Philosoph Ivan Mezsaros den unheilbar kurzfristigen Horizont des kapitalistischen Systems nannte. Es gibt einen unüberwindlichen Konflikt zwischen dem Zeitrhythmus der Natur und dem Drang des Kapitals nach immer mehr Beschleunigung; dem Widerspruch zwischen den zyklischen Prozessen, die die Erde in Gang halten, die sich über Hunderte von Millionen Jahren herausgebildet haben und dem Bedürfnis des Kapitals nach immer schnellerer Abfolge von Produktion, Verkauf und Gewinn.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat der Kapitalismus beispiellose Veränderungen in der gesamten Biosphäre, in den Wäldern der Erde, in Wasser und in der Luft bewirkt. In seinem immerwährenden, endlosen Streben nach Profit zerstört das Kapital die Lebenserhaltungssysteme der Erde, die natürlichen Prozesse und Kreisläufe, die Leben erst möglich machen. Aus dem, was Marx „metabolische Risse“ nannte, sind in unserer Zeit metabolische Abgründe geworden. Deshalb kann die Umweltkrise für Sozialist*innen nicht lediglich ein Gesprächsthema unter vielen sein. Nicht etwas, über das wir den einen oder anderen Artikel schreiben, um uns dann anderen Dingen zuzuwenden. Wir haben es mit einem planetarischen Notfall zu tun, den wir mit höchster Dringlichkeit angehen müssen. Wir müssen Kämpfe für unmittelbare Umweltziele in Gang setzen und uns selbst daran beteiligen. Wir können uns nicht in die Rolle von am Wegesrand stehenden, unbeteiligten Kritikern begeben. Wir müssen uns als Aktivisten, Organisator*innen und Anführer*innen aktiv einmischen und gleichzeitig nach den besten Wege suchen, geduldig zu erklären, wie diese Kämpfe mit dem größeren Kampf um die Rettung der Welt vor dem kapitalistischen Ökozid zusammenhängen.

Wir brauchen Regierungen, die mit der bestehenden Ordnung brechen. Wir brauchen Regierungen, die nur den Arbeiter*innenn, den Bauern, den Armen, den indigenen Gemeinschaften und den Einwanderer*innen verantwortlich sind. Mit einem Wort: Regierungen, die die Anliegen der Opfer des Ökozid-Kapitalismus vertreten und nicht die Interessen von dessen Nutznießern und Repräsentanten. Ein solch tiefgreifender Umbau der Gesellschaft wird nicht einfach so von statten gehen. Es ist wohl eher so, dass gar nichts passieren wird, wenn nicht die Ökologie einen zentralen Platz in der sozialistischen Theorie, im sozialistischen Programm und in der Tätigkeit der Sozialist*innen einnimmt.
Übersetzung: Paul Michel