»Nicht nur absurd, sondern verbrecherisch«

COP26 – Bilanz der Klimakonferenz von Glasgow

Interview mit Christian Zeller

Ein Gespräch mit Christian Zeller (Wirtschaftsgeograph an der Universität Salzburg)

Artikel, erschienen in der Jungen Welt, Ausgabe vom 18.11.2021, Seite 3 / Schwerpunkt COP 26. Das Interview führte Jakob Reimann.

Vergangene Woche endete die 26. Klimakonferenz der UN in Glasgow. Wurde die COP 26 wie angekündigt zum historischen Gipfel?

Wer gutmütig und vielleicht etwas naiv ist, hebt folgende Punkte in der Schlusserklärung hervor: Die Regierungen bekennen sich zum Ziel, die Erwärmung auf 1,5 Grad gegenüber 1850 zu begrenzen. Es soll ein langsamer Ausstieg aus der Kohle eingeleitet werden. Die Treibhausgasemissionen sollen noch in diesem Jahrzehnt um 45 Prozent gegenüber 1990 sinken. Die Regierungen sollen ihre Verpflichtungen zur Emissionssenkung nachbessern und jährlich berichten. Doch all das bleibt letztlich sehr allgemein und unverbindlich. Es kostet niemanden etwas, Ziele in die Welt hinauszuposaunen.

Die Rhetorik für Nettonull im Jahre 2050 offenbart, dass die Regierungen auf eine technologische Lösung setzen. Das ist unrealistisch und mit enormen Risiken behaftet. Nettonull entwickelt Rechtfertigungen für Konzerne und ihre Regierungen, ihren bisherigen Kurs weiterzuverfolgen. Irgendwann werde man in der Lage sein, gigantische Mengen CO2 aus der Atmosphäre zu holen und irgendwo zu speichern. Das ist nicht nur eine absurde, sondern auch eine verbrecherische Perspektive. Realistisch betrachtet: Die COP 26 ist eine weitere Demonstration der Regierungen, dass sie die Erde bewusst auf einem Erhitzungspfad halten und der Weltgesellschaft, vor allem den armen Menschen, die bitteren Konsequenzen aufbürden.

Alok Sharma, Präsident der Konferenz, bezeichnet den sogenannten Glasgower Klimapakt als »beispiellos und wirklich bedeutungsvoll«.

Ja, die COP 26 war bedeutungsvoll, weil sie der Klimabewegung und der ganzen Welt so deutlich wie noch nie vor Augen geführt hat, dass es nicht um mangelnden Mut der Herrschenden geht, sondern um die Zwänge der kapitalistischen Produktionsweise. Glasgow zeigte unmissverständlich, dass die Regierungen den eingeschlagenen Kurs weiterverfolgen. Die COP 27 wird in Scharm El-Scheich in Ägypten unter der Aufsicht des Diktators Al-Sisi stattfinden, die COP 28 in den Vereinigten Arabischen Emiraten, deren Reichtum weitgehend auf Öl beruht. Die Klimabewegung sollte aufhören, sich an den Beschlüssen dieser Konferenzen zu orientieren. Die COP gehören zum imperialistischen Weltsystem genauso wie die WTO, die G20 oder die G7.

2015 wurde auf der COP 21 in Paris beschlossen, den globalen Temperaturanstieg im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf möglichst 1,5 Grad zu begrenzen. Gegenwärtig liegen wir bereits bei rund 1,2 Grad über dem Jahr 1850. Was bedeuten diese Zahlen?

Würden die Regierungen ihre nationalen Verpflichtungen zur Reduktion der Treibhausgase umsetzen, würde sich die Welt gegen Ende des Jahrhunderts um wahrscheinlich durchschnittlich 2,7 Grad erhitzt haben. Nun wissen wir aus Erfahrung, dass die Regierungen nicht einmal ihre ungenügenden eigenen Verpflichtungen einhalten. Das heißt, die wirkliche Entwicklung läuft mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Erwärmung von mindestens drei Grad gegen Ende dieses Jahrhunderts hinaus. Die Landflächen erwärmen sich jedoch rund anderthalbmal stärker. Die Arktis würde sich wahrscheinlich mehr als doppelt so schnell erwärmen im Vergleich zu den Mittelwerten. Das Erdsystem wird Kippunkte überschreiten, was bedeutet, dass der Erhitzungsprozess eine unkontrollierbare Eigendynamik annimmt.

Bald wird in Berlin voraussichtlich die Ampel aus SPD, Grünen und FDP regieren, alle drei Parteien hängen mehr oder weniger dem Ansatz des sogenannten grünen Wachstums an. Ist grüner Kapitalismus ein Widerspruch in sich?

Die Ampel setzt auf grüne Modernisierung und technologische Maßnahmen. Grünes Wachstum ist ein Widerspruch in sich. Die kapitalistische Produktionsweise beruht auf der Akkumulation von Kapital. Stottert diese, schlittern wir in die Krise mit allen dazu gehörenden Folgen wie Arbeitslosigkeit, Verarmung etc. Der Akkumulationsprozess des Kapitals ist immer zugleich auch ein Prozess der biologischen, physikalischen und chemischen Stoffumwandlung, die ihrerseits Energie umsetzt. Diesem Zusammenhang können wir nicht entfliehen. Eine grüne Modernisierung beruht darauf, dass mit günstigen Rohstoffen eine Infrastruktur für erneuerbare Energien aufgebaut wird, was wiederum darauf fußt, dass die imperialistischen Länder die Rohstoffpreise drücken. Da winken neokoloniale Verhältnisse. Ich fürchte, die Ampel wird sowohl sozial als auch ökologisch noch schlimmer als ihre Vorgängerregierung.

Werden linke Spielarten eines Green New Deal, wie sie in den USA etwa von Alexandria Ocasio-Cortez und Bernhard Sanders vertreten werden, der Dringlichkeit der Krise gerecht?

Mit den linken Varianten eines Green New Deal gehe ich insofern mit, als dass die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Anliegen der arbeitenden Klassen unter den Bedingungen der begrenzten Natur gleichermaßen in ein alternatives Programm gegossen werden müssen. Doch die Vorschläge des Green New Deal sind gewissermaßen die linke Variante der kapitalistischen Modernisierung. Sie stellen die Macht des Kapitals und den Akkumulations- und Wachstumszwang nicht in Frage. Auch die linken Green New Deals rütteln nicht am Privateigentum an strategischen Produktionseinrichtungen. Sie meinen, der Kapitalismus ließe sich sozial zähmen und ökologisch etwas verträglicher organisieren. Das ist eine Illusion. Die ökonomischen und stofflich-energetischen Spielräume hierfür existieren nicht. Green New Deals sind nicht Realpolitik, sondern irreal.

Sie sprechen in Ihrer Forschung vom Anthropozän-Kapitalismus. Was meint der Begriff?

Mit der kapitalistischen Industrialisierung und der einsetzenden Wachstumsdynamik haben die Gesellschaften zunehmend drastischer in das Erdsystem eingegriffen. So stark, dass wir mit der großen Beschleunigung nach dem Zweiten Weltkrieg letztlich in eine neue erdgeschichtliche Epoche getreten sind. Das stabile und lebensfreundliche Holozän der letzten 12.000 Jahre ist Geschichte, und wir befinden uns im Zeitalter des von Menschen dominierten Anthropozäns. Das Erdsystem wird zunehmend instabil und verändert sich rasch. Jede politische Strategie, die auf schrittweise Veränderungen setzt, ist in dieser hochgradig instabilen Situation auf Sand gebaut.

Sie vertreten in der wortwörtlichen Bedeutung radikale Positionen und fordern eine ökosozialistische Revolution. Wie sieht die aus?

Das 1,5-Grad-Ziel erfordert einen historisch einmaligen Um- und Rückbau großer Teile des gesamten produktiven Apparats unserer Gesellschaften. Das ist nur möglich, wenn wir mit dem Zwang der Akkumulation von immer mehr Kapital und der Maximierung des Profits brechen und die kapitalistische Produktionsweise überwinden – nicht nur theoretisch und abstrakt, sondern ganz konkret in unseren Alltagsforderungen.

Wir brauchen eine Gesellschaft, die weniger und anders produziert, weniger transportiert, mehr Sorge für die Menschen und die Natur trägt, den Reichtum fair teilt und gemeinsam entscheidet. Eine ökosozialistische Umwälzung der Gesellschaft zielt ab auf die demokratische gesellschaftliche Aneignung der Produktion, des Finanzsektors sowie der Transportinfrastruktur und erfordert einen massiven Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, die weitgehend gratis anzubieten ist. Nur auf diese Weise lässt sich die Gesellschaft auf demokratische Weise sozial gerecht und ökologisch verträglich organisieren. Zentrales Ziel einer ökosozialistischen Alternative ist die gerechte Teilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Das bedeutet, dass sich die Ausgebeuteten und Unterdrückten in einem Prozess der Selbstermächtigung der wirtschaftlichen und politischen Macht der bürgerlichen Klasse erfolgreich entgegenstellen und diese beenden.

Welche Rolle spielen Bewegungen vor allem junger Menschen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion in Ihren Konzepten?

Die internationale Klimabewegung muss sich konsequent und prinzipiell überall auf die Seite der Unterdrückten stellen. Bewegungen wie Fridays for Future sind entscheidend. Sie tragen dazu bei, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu verändern. Wir in den reichen Ländern müssen zusammen mit den sozialen Bewegungen anderswo auf der Welt dafür kämpfen, dass die imperialistischen Länder, das heißt, die großen Kapitalgruppen, ihre ökologische Schuld begleichen. Das heißt, sie müssen den ökologischen Umbau der armen Länder finanziell tragen. Zunächst heißt das, dass die Klimabewegung die Forderung nach einem Schuldenerlass der armen Länder aufgreifen muss. Zugleich ist wichtig, dass wir in und mit diesen Bewegungen lernen, strategisch zu denken. Wir müssen Ansätze konkreter gesellschaftlicher Gegenmacht aufbauen. Am Wohnort, im Betrieb, an der Schule, an der Uni, überall. Es gilt, eigene stabile Strukturen aufzubauen. Eine ökosozialistische Bewegung setzt sich dafür ein, dass sich diese Ansätze von Gegenmacht verbinden und schließlich in einen Prozess münden, der die bestehenden Macht- und Eigentumsstrukturen grundsätzlich und praktisch überwindet. Das ist der revolutionäre Prozess.