In der Januar- und Februar-Ausgabe des Forum Gewerkschaften wurde mit Beiträgen von Wolfgang Neef und der erstmals vollständigen Veröffentlichung eines Artikels von Otto Ulrich aus dem Jahr 2011 eine Diskussion mit weitgehenden Fragestellungen eröffnet, die im Forum wahrlich nicht jeden Monat publiziert werden. Neef fordert ein, sich in der gewerkschaftlichen Diskussion nicht länger nur defensiv mit den Auswirkungen kapitalistischer Technologieentwickung und globalisierter Produktion auf Gesellschaft, Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen zu befassen. Was bis heute der Fall ist. Neef und Ulrich reklamieren zudem, die »schwer zu verkraftende Erkenntnis« nicht länger zu verdrängen, dass das von den Gewerkschaften mitgetragene Fortschrittsmodell der letzten 150 Jahre »die eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören droht«. Tatsache ist: Das droht nicht nur, sondern ist in vollem Gange.
»Es ist auffällig: Während sich gegen die destruktiven Technologien wie Atom- und Kohlekraft hierzulande dynamische soziale Bewegungen entwickelten, ist die (fossilistische) Automobilität von diesen Entwicklungen verschont geblieben; die kulturelle Bedeutung des Autos ist kaum zu überschätzen, ist es doch das zentrale Symbol kapitalistischen Fortschritts geworden«,1 schrieb die Rosa-Luxemburg-Stiftung noch 2017. Das hat sich inzwischen verändert, denn mit der Klimaschutzbewegung und Fridays for Future ist auch die autokritische Verkehrswende-Bewegung wieder da und hat – mindestens bis zur Corona-Krise – mediale Aufmerksamkeit erkämpft, nach langen Jahren eines Nischen- und Schattendaseins neben den dynamischen Bewegungen gegen Atom und Kohle. Sie hat sich Aufmerksamkeit erkämpft auch bei Gewerkschaften – es gibt gemeinsame Erklärungen von IG Metall und Fridays for Future, und in ihrem Manifest »Miteinander für Morgen« bekennt sich die IG Metall 2019 uneingeschränkt zu den Zielen des Pariser Klimaschutzabkommens.
Politik des Zeit-Gewinnens
Doch der inzwischen gern zitierte Slogan »There are no jobs on a dead planet« findet bisher kaum Umsetzung in gewerkschaftliche Politik. Noch dominieren eher hilflose Forderungen an die Politik, die z.T. sogar Brandbeschleuniger-Qualitäten haben. So die Forderungen nach Abwrackprämien für alte Benziner und Diesel; so Forderungen, die Infrastruktur für die massenhafte Durchsetzung von E-Autos sicherzustellen. Beschäftigungs- und klimapolitisch ist das falsch.
Die Belegschaften der Auto- und Zulieferindustrie stehen in und vor mehreren Krisen: Eine neue Verlagerungswelle von Produktionen nach Osteuropa und die Bereinigung der aufgebauten (Verbrenner-) Überkapazitäten rollt – und die Unternehmen nutzen die verunsicherte Situation von Belegschaften und Gewerkschaften zum Angriff auf tarifliche Rechte und Standards. Was die Umstellung auf Elektroantriebe beschäftigungspolitisch bedeutet, ist hinlänglich erforscht und bekannt.
Klimapolitisch wird, beim heutigen Motorisierungsgrad, die erkennbar beschleunigte Ablösung von Verbrennern durch Elektroantriebe keinen Beitrag zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels leisten. E-Antriebe sind keinesfalls emissionsfrei, sondern jedes E-Auto startet mit einem gewaltigen ökologischen Rucksack und verlängert den nicht vertretbaren Pfad einer autozentrierten Mobilitätspolitik. Die Durchsetzung des Elektroautos durch Politik und Autoindustrie ist wie auch das »autonome Fahren« ein weiterer Vorstoß, um für ein nicht zukunftsfähiges Transportsystem und sein Massen-Produkt Auto ein weiteres mal Zeit zu gewinnen.
Soll das das 1,5-Grad Ziel noch erreicht werden, erfordert dies zwingend eine Verkehrswende weg vom motorisierten Individualverkehr und dabei die Abkehr von der Produktion ständig steigender Zahlen hochmotorisierter überdimensionierter Autos. Egal mit welcher Antriebsart – es müssen deutlich weniger werden.
Kritik-Wellen der Umweltbewegung
Zweifellos: Die Herrn im Haus des »zentralen Symbols kapitalistischen Fortschritts« waren immer wieder fähig zu taktisch flexiblem Zurück- und Ausweichen, wenn ihre Konzerne von sozialen Bewegungen angegriffen wurden. In den letzten 40 Jahren sahen sie sich bereits mehrmals gezwungen, unter den anbrandenden Kritik-Wellen von Umweltbewegungen die unmittelbar bevorstehende ultimative Wende zum sauberen Individualverkehr, ja sogar emissionsfreie Autos zu verkünden. Genügte gegen die Autokritik vor dem Hintergrund des Waldsterbens Anfang der 1980er Jahre noch die Katalysator-Technik als »umweltfreundliche« Antwort, musste in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts von Daimler schon eine serienreife Brennstoffzellen-A-Klasse und kleinere Sprit sparende »Stadt«-Autos angekündigt werden. Das Mobilitätsmodell an sich war aber noch kein Terrain, das die Autoindustrie verteidigen musste.
Das sollte sich jedoch schnell ändern. Schon Mitte der 1980er Jahre stand der PKW-Individualverkehr als Verursacher von Flächenfraß, Gesundheitszerstörung, Schadstoffemission und unwirtlichen Städten im Zentrum der Kritik der Umweltbewegungen. Und die Vorstandsetagen verstanden gut, dass diese Kritik ans Eingemachte gehen könnte, wenn Umwelt-Bewegung und Arbeiterbewegung den Weg zueinander fänden – was nicht passiert ist, wie wir wissen. Daimler-Konzernchef Werner Breitschwerdt jedenfalls warnte »seine« Arbeiter und Angestellten 1986: »Die heute so oft gestellte Frage, ob das Auto Zukunft hat, kann damit im Kern als Frage der Zukunft unsrer Technik überhaupt und damit letztlich auch als Frage nach der Zukunft unsrer Kultur insgesamt verstanden werden.«2
Der Aufschwung der Ökologie- und Anti-AKW-Bewegung in den 1970er Jahren, damals »neue soziale Bewegungen« genannt – in Abgrenzung zum klassischen linken Bezug auf die Arbeiterbewegung –, hatte große Attraktivität für und Einfluss auf undogmatische Linke in Betrieben und Gewerkschaften. Die großen Zukunftsfragen fanden ihren Niederschlag im Pausengespräch am Arbeitsplatz und in der gewerkschaftlichen Debatte, denn die Zahl linker Aktivist*innen und ihrer Netzwerke in den Gewerkschaften war relevant. Eine Periode gesellschaftlicher Gärung um und nach 1968 – Lehrlingsbewegung, Wilde Streiks und große gewerkschaftlicher Kämpfe – hatten den Boden dafür bereitet und Bereitschaft für Diskussionen auch in den Autobelegschaften in Gang gesetzt. Die Frage »Wo soll sich das alles hin entwickeln?« war kein exklusives Thema für Expertenzirkel mehr.
Konversions- und Ingenieurarbeitskreise
Der faszinierende Plan der Arbeiter und Techniker des britischen Rüstungskonzerns Lucas Aerospace, die in den 1970er Jahren den drohenden Massenentlassungen kämpferisch einen Plan zur Umstellung der Produktion auf sozial nützliche Güter entgegengestellt hatten, inspirierte linke Arbeiter*innen und Angestellte der Autoproduktion genauso wie die auf den Norddeutschen Werften. Um die lange Zeit aus der gewerkschaftlichen und politischen Diskussion verdrängte Frage »Was soll produziert werden und wer soll darüber entscheiden« entstanden betriebliche und gewerkschaftliche Arbeitskreise zur Rüstungskonversion (»Statt Waffen nützliche Dinge produzieren«) und Ingenieurarbeitskreise, vor allem in der IG Metall. Zu einer Veranstaltung des IG Metall-Ingenieursarbeitskreises im Stuttgarter Gewerkschaftshaus kamen 1985 z.B. 500 Metaller*innen, um von Bosch-Betriebsräten frühe Kritik an künftig immer schwereren Autos zu hören. Sie stellten dar, wie Investitionen im Transferstraßenbau für Elektromotoren bei Bosch nur den einen Sinn hätten: immer mehr Motoren zur unsinnigen elektrischen Verstellung von Fenster, Kofferraumdeckel, Sitzen, Spiegel etc. in künftige Autos zu stopfen – was sie immer schwerer mache. Eine Kritik an den Vorboten der SUV-Produktion.
Die Kritik linker Gewerkschafter im Betrieb nahm seit Anfang der 1980er Jahre nicht mehr nur Arbeitsbedingungen, Verteilungs- und Eigentumsfrage in den Blick, sondern auch die stoffliche Seite des Produkts Auto, seiner Produktion und seiner sozialen ökologischen Folgen. So wurde eine »erste Ideenskizze für eine Verkehrswende« (!) von Daimler-Plakat-Betriebsrat Willi Hoss mit dem Titel »Alternative Verkehrskonzepte und ihre Auswirkungen auf die Automobilindustrie«3 vorgelegt.
Debatten um alternative Produktionskonzepte
Im Daimler-Werk Untertürkheim wurde von den Kolleg*innen der Plakat-Gruppe vor einem bevorstehenden Investitionszyklus in neue Transfermaschinenstraßen eine Debatte über den Produktionsapparat geführt und die Frage aufgeworfen: Was können wir eigentlich mit so einer Maschinerie anderes machen als Achsen, Kurbelgehäuse und Zylinderköpfe für PKWs zu produzieren? Dem auf hohe Stückzahlsteigerungen ausgelegten Einzweck-Transfermaschinenstraßenkonzept der Werkleitung stellten wir ein Konzept flexibler Universal-Maschinen in Fertigungsinseln gegenüber. Ein Konzept, das Produkt-Konversion weg von der Produktion von Auto-Teilen als Option offengehalten hätte.
Zehntausende Flugblätter wurden dazu verteilt, Diskussionen in den Werkstätten mit den Kolleg*innen geführt, monatelang wurde das alternative Produktionskonzept im Betrieb diskutiert. Die Werkleitung musste sich auf Betriebsversammlungen damit auseinandersetzen und mit eigenen Info-Blättern dagegenhalten. Denn dieses Konzept wurde an der Basis nicht abgetan als weltfremde Spinnerei, weil es gleichermaßen die Qualifikationsinteressen der Kolleg*innen aufgriff, die existentiellen Bedürfnisse der lohnabhängigen Kolleg*innen nicht aus dem Blick ließ – eine Grundvoraussetzung auch für den heute so dringenden Neustart der Konversionsdebatten in Betrieb und Gewerkschaft im Zeichen einer sich verschärfenden Klimakrise und massiven Angriffen der Unternehmen. Denn wer die Kolleg*innen der Autobetriebe nicht als zu gewinnende Bündnispartner für den unvermeidlichen klimaschonenden Umbau des Transportsystems sieht, ihnen in ihren Abwehrkämpfen gegen die vielfältigen Unternehmerangriffe nicht zur Seite steht, oder sie gar denunziert als auf Gedeih und Verderb ans Produkt Auto gekettete Gegner eines sozial-ökologischen Umbaus, kann sie nur tief in die Arme des eigentlichen Gegners treiben – Autolobby, Konzernvorstände und politische Rechte.
Der Höhepunkt dieser Welle der Auto-Kritik setzte noch 1989 die Autokonzerne unter massiven Legitimationsdruck. Der Spiegel titelte am 11.9.1989 mit scharfer Kritik an der »Gesellschaft im Auto-Delirium« und machte damals bereits den CO2-Ausstoß des PKW-Systems für eine drohende Klimakatastrophe (!) verantwortlich.
Die zunehmende Kritik an den zerstörerischen Folgen des PKW-basierten Transportmodells gingen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre auch nicht spurlos am Apparat der IG Metall vorbei. Jürgen Stamm, Hauptamtlicher der IG Metall-Stuttgart, diskutierte 1985 mit uns dissidenten Daimler-Betriebsräten der Plakat-Gruppe auf dem Podium im »Alptraum-Auto«-Zelt der Stuttgarter Öko-Bewegung über deren Vorschläge zum Umbau des Produktionsapparats. Die IG Metall Esslingen organisierte Wochenend-Schulungen für IG Metall-Vertrauensleute aus dem Daimler-Betrieb Mettingen (wo übrigens bis Ende der 1960er Jahre Eisenbahnen gebaut wurden). Dort diskutierten Ingenieure und Arbeiter aus Gießerei, Werkzeugbau und Achsenproduktion – ausgehend von der dringenden Verkehrswende weg vom PKW – die Frage, was für sozial und nützliche und ökologisch vertretbare Produkte mit dem existierenden Produktionsapparat im Neckartal produziert werden können. Und gleichzeitig über existenzsichernde Konzepte wie Arbeitsverkürzung im Umbauprozess.
Der damalige Vorsitzende der IG Metall, Franz Steinkühler, stellte beim Zukunftskongress der IG Metall 1988 fest: »Seit Mitte der 70er Jahre ist immer deutlicher geworden: die Fortschreibung vorhandener Entwicklungstrends ergibt insgesamt keine annehmbare Zukunft mehr. (…) Die Umweltfrage ist zu einer Überlebensfrage der Menschheit geworden. 20% der Weltbevölkerung verbrauchen rund 80% der Weltressourcen und sind für 80% der Emissionen auf dieser Erde verantwortlich.«4
Ein IG Metall-Konzept für eine Verkehrswende
Mit zeitlichem Verzug folgte 1990 die auch in den Autobetrieben viel diskutierte IG Metall-Publikation »Auto, Umwelt und Verkehr – Umsteuern, bevor es zu spät ist!«5 Deren Analyse erkennt und benennt die drohende Klima-Klimakatastrophe: » (…) eine weltweite Angleichung der PKW-Dichte an das Niveau der Industrieländer wäre beim Stand der Technik katastrophal für den Energie-, Rohstoff- und Klimahaushalt der Erde(…).« Sie kritisiert 1990 die »Verführung zur PS-Protzerei und Prestige-Exhibitionismus«. Bemerkenswerte Feststellungen für eine stark von den Auto- und Zulieferindustrie-Betriebsräten geprägten Gewerkschaft, deren Auto-Betriebsräte an den weltweiten Wachstumsstrategien ihrer jeweiligen Konzerne meist nicht viel zu kritisieren fanden. »Auto, Umwelt und Verkehr« endet mit der Schlussbemerkung: »Gleichwohl sind Automobilmanager und Verkehrspolitiker immer noch dabei, Probleme zu verharmlosen und die Strategien von gestern fortzuschreiben«.
Das Konzept war 1990, im Jahr nach dem Mauerfall, ein vorerst letzter Versuch, in der IG Metall Konzepte zur Verkehrswende zu debattieren und zu verankern. Denn auch die große Mehrheit der Betriebsräte der IG Metall ist auf diesem Weg der »Verharmlosung und der Fortschreibung der Strategien von gestern« mitgegangen. Mit der Erschließung fast aller Länder der Welt als Absatz-Märkte war vorerst die Bedrohung von Arbeitsplätzen wegen gesättigter Metropolen-Märkte entschärft. Und die Suche nach Produkt- und Beschäftigungs-Alternativen war nicht mehr das organische Bindeglied zur Debatte um die Schädlichkeit des Produkts Auto.
Produkt- und Produktionstechnik-kritische Diskussion wurden verschüttet. Diese ernüchternde Bilanz autokritischer Diskussion in der IG Metall schmälert deren Bedeutung nicht. Sie muss in der IG Metall wieder auf den Tisch geholt werden. Denn diese »organischen Bindeglieder« bekommen durch die derzeitigen Strategien der Autokonzerne neue Aktualität. Klima, Umwelt und Verkehrsfragen werden in der Periode vor uns wieder mit den sozialen Problemen zusammenfallen.
Die eigenen Think Tanks nutzen
Zehntausende hochqualifizierter Ingenieure, Techniker und Facharbeiter in den Auto-Betrieben und -Regionen sind ein aktivierbarer Think-Tank, wenn ihre Kreativität und Qualifikation nicht mehr wie in den letzten Jahrzehnten auf anachronistische, ja schädliche Ziele fokussiert würde. Das setzt voraus, dass Gewerkschaft und Klimaschutzbewegung gemeinsam verhindern, dass diese Think-Tanks durch Werkschließungen und drastischen Personalabbau zerstört werden: »Umsteuern bevor es zu spät ist«, das forderte vor 30 Jahren der Untertitel von »Auto, Umwelt und Verkehr«.
Tom Adler
Zuerst erschienen in: Sozialismus Heft Nr. 3 | März 2021 | Heft Nr. 460
1 RLS-Analysen Nachhaltigkeit: Vom Mythos des »Klimaretters«, S. 11.
2 Dr. Werner Breitschwerdt in der Mitarbeiter-Zeitschrift Daimler-Benz Intern, 1/1986.
3 Willi Hoss/Reinhard Pfriem, in: Auto, Auto über alles? Freiburg 1987.
4 Fachkonferenz der IG Metall vom 21./22.1.1988 »Wege aus der Bedrohung- Umweltpolitik zwischen Reparatur und realer Utopie«.
5 Auto, Umwelt und Verkehr. Umsteuern, bevor es zu spät ist! Schriftenreihe der IG Metall 122.
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