Rezension Tim Jackson: Kann der Kapitalismus die Klimakatastrophe stoppen? 

Autor: Hans-Jürgen Kleine

Tim Jackson (director of the Centre for the Understanding of Sustainable Prosperity, University of Surrey), Foto: Stephan Roehl 2017
Tim Jackson ist ein Denker, der in der ökologischen Linken seit Jahren immer wieder gelesen und zitiert wird. Eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk ist daher nicht ohne Bedeutung. Die nachfolgende kritische Betrachtung des Autors Tim Jackson bezieht sich auf dessen Buch „Wohlstand ohne Wachstum. Grundlagen für eine zukunftsfähige Wirtschaft“. Die deutsche Erstausgabe dieses Werkes erschien im  Oekom-Verlag in München in 2017. Das Buch hat 367 Seiten und ist in der dritten Auflage erschienen.  Kritisch gelesen hat das Buch Hans-Jürgen Kleine, Köln. Hans-Jürgen engagiert sich seit vielen Jahren in der politischen Linken, bei Attac und in der Klima-Bewegung. Nachfolgend dokumentieren wir seine fundierte und umfassende Analyse des Buches von Tim Jackson.

Nach dem Erscheinen des ersten Bandes (2009) und des hier untersuchten Updates seines Buches aus 2017 zog der renommierte britische Ökonom Tim Jackson (im Folgenden abgekürzt: ‚TJ‘) viele europäische und deutsche NGOs in seinen Bann. Ob er allerdings eine überzeugende Strategie aufzeigt, wie der vom Industriekapitalismus erzeugte Riss im „Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur“ (Kohei Saito, 2023) zu heilen ist, am besten anders als mit den Gesetzen des Marktes, sollte die radikalökologische Linke sich näher ansehen. Immerhin wird ja Jacksons Studie von prominenten Systemkritiker:innen wie Noam Chomsky und Naomi Klein sehr gelobt.   

Unter dem Strich ist festzustellen, dass der Autor diese Prüfung nicht besteht, auch wenn seine Arbeit große Sorgfalt in der Analyse spezifischer Fachgebiete der Degrowth-Ökonomie aufweist und er es beispielsweise sogar wagt, dem französischen Starökonomen Thomas Piketty zu widersprechen. Die allgemeine Gültigkeit von dessen grundlegendem „Gesetz des Kapitalismus“ schränkt er drastisch ein. Dieses besagt laut Pikettys Formel, dass auf lange Sicht „der Anteil des in Kapitals am Einkommen in Richtung eines bestimmten algebraischen ‚Produkts‘ tendiert, das sich aus der Ertragsrate auf Kapital, multipliziert mit der Sparrate, dividiert durch die Wachstumsrate ergibt“ (zit. n. TJ, 252). Demnach würde selbst in einer Postwachstumsgesellschaft der Anteil des Kapitals am Einkommen explosionsartig steigen, eine These, die die Hoffnungen der Postwachstumsbefürworter:innen erheblich dämpfte. Jackson und sein Kollege Peter Victor glauben hingegen, bewiesen zu haben, dass die Formel ihres berühmten Kollegen in Bezug auf den Einkommensanteil des Kapitals nur dann gilt, wenn Wachstumsrate, Sparrate und Ertragsrate über lange Zeit hin unverändert bleiben (253). Degrowth könne sehr wohl einen Zuwachs an Gleichheit bringen.

 Sehr schön wird u.a. mit Bezug auf Mariana Mazzucato bestätigt, dass Innovation eben nicht im privaten Sektor am besten aufgehoben ist, da privates Kapital das Risiko scheut und vor der Investition in neue Technologien zurückschreckt. Für den kommerziellen Erfolg waren in zahlreichen Fällen öffentliche Investitionen die entscheidende Voraussetzung. Ob diese sinnvoll sind und negatives Wachstum hemmen, ist jedoch eine Frage des politischen Willens, müssten wir wohlweislich hinzufügen. Das Problem besteht ja gerade darin, dass der bürgerliche Staat (Tim Jackson geht nicht von der Existenz eines Klassenstaates aus) primär Unternehmerinteressen bedient, die auf die systematische Förderung des ökologisch schädlichen Konsums ausgerichtet sind, um Nachfrage zu schaffen, erste Voraussetzung für Investitionen und neues Wachstum. Allein darin sehen die politisch Mächtigen die Lösung gegen Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und Umweltzerstörung.     

Führt Wachstumsstopp zu einem Zusammenbruch?

Es gefällt, wie wenig euphorisch der Autor mit dem großen Traum vieler Klimaaktivist:innen umgeht, für die die Vision der Postwachstumsökonomie sakrosankt ist. Beispielsweise zieht er die Datenlage in Russland nach dem Kollaps der Volkswirtschaft 1990 ff. als Beleg dafür heran, dass Null- oder Minuswachstum einen humanitären Zusammenbruch nach sich ziehen kann. Wirtschaftliche Stabilität und gesellschaftliche Resilienz sind demnach wichtige Faktoren für ein „gutes Leben für alle“, beim Autor unmissverständlich als Synonym für „Wohlstand“ definiert. Die spannenden Fragen lauten also: Führt ein Wachstumsstopp zu einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch? Können wir das Wachstum stoppen, ohne eine Katastrophe hervorzurufen? Gibt es Stabilität etwa nur mit Wachstum? Der Autor macht daher hinsichtlich der zu bewerkstelligenden wirtschaftlichen Stabilität in einer nachhaltigen Produktions- und Lebensweise die größte Schwierigkeit aus. Das von ihm identifizierte „Wachstumsdilemma“ bringt er mit zwei gegensätzlichen Thesen auf den Punkt (136) und bezeichnet es als scheinbares Unmöglichkeitstheorem:

  • Wachstum ist nicht nachhaltig – zumindest nicht in seiner jetzigen Form. Im bestehenden kapitalistischen Wirtschaftssystem verschärfen ausufernder Ressourcenverbrauch und steigende Umweltkosten die fundamentalen Ungleichheiten beim sozialen Wohlergehen
  • Degrowth ist instabil – zumindest unter den derzeitigen Bedingungen. Verringerte Verbrauchernachfrage führt zu steigender Arbeitslosigkeit, nachlassender Wettbewerbsfähigkeit und damit in eine Rezessionsspirale

 

Umlenkung der Ressourcen in den Dienstleistungssektor, in die Care-Ökonomie und die Bildung

Die Schwierigkeit löst er mit einer Fokussierung auf das immense Potenzial des öffentlichen Raumes für Investments der neuen Art, und zwar in großem Stil. Er fordert eine Umlenkung der finanziellen Ressourcen in den Dienstleistungssektor, in die Care-Ökonomie, das Gesundheitswesen, Freizeitanlagen, Bildungsstätten, Erziehungswesen, in die sog. Kreativsphäre (Theater, Tanz, Spiel usw.). Hier sieht er den Ressourcenverbrauch auf einer Stufe, die das fatale Wachstum an Materialverbrauch und den Energiebedarfs erheblich senken und sogar stoppen kann. Das Argument von Kritiker:innen, wonach in den reichen Ländern der ausgedehnte Erholungs- und Freizeitsektor bereits für bis zu 25% unseres CO2-Fußabdrucks verantwortlich sind, relativiert er mit der Feststellung, dass das Prinzip dennoch richtig sei, weil die Konzentration auf Dienstleistung anstatt auf den Materialdurchlauf des traditionellen Konsumismus (beispielsweise verkörpert im Statuswettbewerb um die neueste Mode, im Erwerb des neuesten Handys, eines tolle E-Autos, im Kurzurlaub am Ballermann oder in der Buchung einer Kreuzfahrt) in jedem Fall einen wirksamen Hebel für die Transformation bildet. Degrowth sei bereits in vorbildlicher Weise entwickelt, wie er mit Verweis auf soziale Gemeinschaftsinitiativen, kommunale Energieprojekte, regionale Bauernmärkte, Slow-Food-Genossenschaften, Büchereien, örtliche Reparatur- und Wartungsdienste, Kunsthandwerksbetriebe, Schreibwerkstätten, Aktivitäten in der freien Natur, Gärtnerei, Musik- und Theatergruppen, Sportvereine usw. aufzählt. 

 

Absage an eine Jagd nach erhöhter Arbeitsproduktivität

Abgerundet wird dieses Panoptikum an Vorschlägen durch einen Blick auf das Thema ‚Arbeit‘. Der beständigen Jagd nach erhöhter Arbeitsproduktivität erteilt er eine Absage. Gefordert wird eine Strategie des Vorrangs für die Schaffung von Arbeitsplätzen, vor allem für die Jugend, deren Energie und Talente unter den gegenwärtigen Verhältnissen großenteils nicht in die Arbeitswelt eingebracht werden können. Der Steigerung der Arbeitsproduktivität durch Innovation setzt er die Verkürzung der Arbeitszeit und die Teilung der verfügbaren Arbeit entgegen. Dies alles sind allerdings keine neuen Ideen, sondern werden seit Jahren in linken Gewerkschaftskreisen und emanzipatorischen NGOs diskutiert. Dazu gehören auch die beinahe schon als Allgemeinplätze der Linken gültigen Forderungen wie die Abschaffung der Bankenmacht zur Geldschöpfung und eine Reform der Finanzmärkte (von Vergesellschaftung und Entflechtung des Bankensystems ist allerdings nirgends im Buch die Rede). Als positives Beispiel für ein progressiv („ethisch“) im Sinne der Klimabewegung arbeitendes Geldinstitut wird die Triodos-Bank genannt, die ihr Portfolio zu hundert Prozent auf nachhaltige Projekte konzentriere und nur Geld verleihe, das von Sparer:innen und Investor:innen in der Bank deponiert wurde. Interessant ist in dem Zusammenhang die Sympathie Jacksons für die Einführung eines Vollgeldsystems: „In einem solchen System müssten Staaten für öffentliche Ausgaben und Investitionen das Geld nicht mehr auf kommerziellen Rentenmärkten aufnehmen. Stattdessen können sie das Geld direkt in die Wirtschaft geben, weil und wenn Finanzierung nötig ist – unter dem einzigen Vorbehalt, dass Ausgaben dieser Art nicht inflationär sind“ (227-228; die Vollgeldeinführung befürwortete u.a. Keynes). Kurzum, Jackson geht es darum, die Macht der Geldschöpfung den kommerziellen Institutionen zu entreißen und sie auf die neue Ökonomie der Nachhaltigkeit zu übertragen.

 

Fehlerhafte und illusorische Staatsauffassung

Das große Manko der Arbeit liegt neben neben vielen überflüssigen Wiederholungen in einer fehlerhaften und illusorischen Auffassung von der Rolle des modernen Staates (Kap. 10) und dessen vermeintlich möglichen Nutzbarmachung für die Verwirklichung all dessen, was der offenkundige Anhänger von J.M. Keynes bis zum Ende seines Werkes so schön hergeleitet hat: Die erfolgreiche Verwaltung von Gemeinressourcen durch lokale Gemeinschaften; die Neubelebung  des Rousseauschen Gesellschaftsvertrags (der dem endlosen Krieg der Einzelnen und Gruppeninteressen in der Gesellschaft ein Ende machen und den ewigen Frieden stiften sollte); die Festlegung von Einkommensgrenzen und von Obergrenzen für den maximal erlaubten ökologischen Fußabdruck oder die Anwendung einer neuen „Investitionsökologie“ mit drei Kriterien (steigende Ressourcenproduktivität, geringere Renditen, sozialere Investments). Stutzig macht ferner die an den historischen Erkenntnissen vorbeigehende Gleichsetzung von Stalinismus und Kommunismus (264). Damit schafft sich Jackson von vornherein eine Denkblockade, die ihn von einer wissenschaftlichen Öffnung hin zu bereits angedachten kommunistischen Ideen (s.u.) fernhalten.

 

Bewunderer des Apple-Konzerns

Schließlich entpuppt sich Jackson als Bewunderer des Apple-Konzerns, weil dieser über die Kampagne „Think different“ (sinngemäß: etwas Verrücktes tun, um die Welt zu verändern) groß und mächtig wurde. Diese präsentiert er als Vorbild. Dass ihr Gründer zu einem jener „Kapitalisten des 21. Jahrhunderts“ (Werner Rügemer, 2018) wurde, dessen Unternehmen dem Staat, der ihn finanziell massiv gefördert hat, Steuern in Milliardenhöhe entzieht und damit eine erfolgreiche Klimapolitik verhindert, kümmert unseren Autor anscheinend nicht. Für Jackson ist der Staat nicht das Instrument der herrschenden Klasse, der Kapitalisten, sondern eine neutrale Instanz, die bei entsprechender parlamentarischer Mehrheit emanzipatorisch in Dienst genommen werden kann. Daher lehnt er auch eine radikale Wende von unten ab und spricht sich dafür aus, das System keinesfalls überstürzt zu kippen. Eine Revolution hält er für zu gefährlich, schürt diesbezüglich Ängste und landet damit unweigerlich bei der historisch gescheiterten Strategie des Marsches durch die Institutionen. Immer wieder lässt Jacksons  Skepsis durchblicken, ob alles so funktionieren kann, wie er es entwirft (das Umstandswort ‚vielleicht‘ kommt auffällig oft vor). Das macht nicht gerade Mut. Von erstaunlicher Naivität sind auch Sätze wie der, dass eine Regierung „manchmal“ durch unternehmerische Interessen „gefesselt“ sei (262). Die systemstabilisierende Wirkung der Parteienfinanzierung durch nicht nachhaltige Unternehmen und der im Zuge der Globalisierung ausgeuferten Konzernlobbyismus sind Hindernisse, die für den Autor offenbar nicht existieren oder für deren Beseitigung er kein Rezept hat. Wie jeweils die Staaten auf die o.g. Krisen reagierten (und reagieren), zeigt uns alles andere als die Wendung hin zum „progressiven Staat“ (262), den Jackson als Initiator der großen Wende ausmacht. Dabei sehen wir nichts von einer durchschlagenden Bekämpfung der Armut, die Ungleichheit ist gestiegen, die Reichen wurden und werden noch reicher, die gesellschaftlichen Krisenerscheinungen nehmen zu – von der Aufblähung der Rüstungsetats mit der Kehrseite sozialer und klimapolitischer Kürzungsmaßnahmen gar nicht zu reden. Sogar die Möglichkeit einer Transformation des Parlamentarismus in ein autoritäres System schließt Jackson aus, eine geradezu naive Sichtweise angesichts der bereits etablierten europäischen Polizeistaatssysteme, die inzwischen immer repressiver gegen die Klimabewegung vorgehen, aber ebenso gegen Menschen, die sich der „Staatsräson“ nicht beugen und der systematischen Aushungerung und Bombardierung der Palästinenser:innen entgegentreten. Jackson weiß offensichtlich nicht, dass der Staat des Kapitals je nach Stadium und Tiefe der Akkumulationskrise verschiedene Formen annehmen kann (Parlamentarische Demokratie, Starker Staat, Autoritarismus, Militärdiktatur, Bonapartismus, Faschismus); dass die herrschende Klasse sich zur gegebenen Zeit aussucht, auf welche Art Regime einzuschwenken für sie am opportunsten ist, um den Verwertungsprozess des Kapitals abzusichern.

 

Kein Konzept einer demokratischen Planwirtschaft

Am Ende macht der Ökonom uns noch weis, dass der Begriff ‚Kapitalismus‘ schwer zu erklären sei, da es alle möglichen Systeme von Volkswirtschaften (Privateigentum an Produktionsmitteln, Staatseigentum an denselben; Mischform zwischen beiden; Modelle von Mitbeteiligung usw.) gebe. Sein Favorit scheint hier ein Mix aus gestreuter Eigentümerschaft an Produktionsmitteln zu sein, wobei er keine Größenordnungen für die einzelnen Kategorien angibt und am Ende den Begriff ‚Postwachstumskapitalismus‘ positiv besetzt. Methodisch sieht er darin die Realisierung seines Konzepts einer Postwachstumswelt ermöglicht. Erstaunlich, dass in dieser Auflistung von Eigentumsordnungen und Wirtschaftsweisen kein Gedanke an das Konzept einer demokratischen Planwirtschaft auf der Basis breitestmöglicher Massendemokratie als gültige Alternative zum Wachstumsdilemma verschwendet wird, obwohl dazu theoretische Versuche vorliegen (Wolfgang Harich, 1975; Rudolf Bahro, 1977; Kohei Saito, 2023; um nur einige zu nennen).