Kernfusion: Irrlichternde Politik oder weitsichtige Vision?

Klaus Meier

Anfang November 2024 plädierte der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz in der Talkshow von Maybrit Illner dafür, dass Deutschland statt auf „hässliche“ Windräder auf innovative Technologien wie die Kernfusion setzen solle. Windkraft sei ohnehin nur eine Brückentechnologie, die man eines Tages wieder abschalten sollte. Auf einem Energiekongress der Union in Berlin rief Merz den Anwesenden zu: „Perspektivisch sollten wir in Deutschland die Kernfusion ins Auge fassen“. Die Frage ist: Handelt es sich um die Spinnereien eines CDU-Politikers mit zu viel Phantasie oder ist Merz ein weitsichtiger Visionär? Die Antwort auf diese Frage ist nicht zweitrangig, denn der CDU-Chef wird wahrscheinlich der nächste Bundeskanzler. Um das zu klären, wollen wir im Folgenden einen nüchternen Blick auf die Kernfusion werfen.

An internal view of the Joint European Torus vessel with a complete metallic wall of beryllium and tungsten. Autor: EUROfusion

100 Millionen Grad heißes Plasma

Was ist Kernfusion? Anders als bei der bisherigen Kernenergie wird die Energie nicht durch die Spaltung von Atomen gewonnen, sondern durch die Verschmelzung zweier Wasserstoffatome. Dabei wird eine ungeheure Menge an Energie frei. Genau dieser Prozess findet auch in der Sonne und in den Sternen statt. Nur ist die Übertragung dieses Prozesses auf die irdische Umgebung mit immensen Problemen verbunden. Der Grund: Atomkerne haben positive elektrische Ladungen und stoßen sich gegenseitig ab. Um diese Barriere zu überwinden und eine Kernverschmelzung zu ermöglichen, sind daher ein enormer Druck und extreme Temperaturen nötig. Auf der Erde benötigt man für diesen Prozess ein 100 Millionen Grad heißes Gas, das sogenannte Plasma. Es besteht aus den radioaktiven Wasserstoffisotopen Tritium und Deuterium. Diese hohen Temperaturen auf Dauer zu halten, ist bisher noch nicht gelungen. Sollte dies möglich werden, taucht sofort das nächste Problem auf: Das heiße Gas muss von den Reaktorwänden ferngehalten werden. Kein bisher bekanntes Material hält diesen extremen Temperaturbedingungen stand. Die Reaktorwände würden augenblicklich zerstört. Selbst hitzebeständige Metalle wie Wolfram würden in kürzester Zeit schmelzen. Die Lösung sehen die WissenschaftlerInnen in einem extrem starken Magnetfeld, das dafür sorgen soll, dass das heiße Plasma im Inneren des Reaktors zusammengehalten wird und die Wände nicht erreicht. Um das Zusammenspiel von Magnetfeld und heißem Plasma zu testen, wird im südfranzösischen Cadarache ein riesiger Fusionsreaktor aufgebaut.

Turbulente Plasmaausbrüche

Es gibt aber noch ein weiteres Problem: Das Plasma ist extrem turbulent. Selbst ein Magnetfeld könnte es nicht völlig stabil halten. Immer wieder käme es zu kurzzeitigen Plasmaausbrüchen, die das Feld nicht eindämmen könnte. Bisher gibt es keine Regelstrategie, um auch diese Plasmaausbrüche sicher im Magnetfeld zu halten. Mögliche Regelalgorithmen sind bislang viel zu langsam. Aber auch damit ist das Ende der ungelösten technischen Probleme noch nicht erreicht. So würde durch den Fusionsprozess ein intensiver Fluss hochenergetischer Neutronen entstehen, die mit den Atomkernen in den Metallwänden kollidieren und winzige Schmelzflecken verursachen. Auch dies würde die Wände zerstören. Bisher gibt es keine Garantie, dass diese Materialprobleme gelöst werden können. Sollten sie sich als unüberwindbar erweisen, wird als Alternative erwogen, die Reaktorwände aus flüssigem Metall herzustellen. So könnten sie nicht durch Schmelzen und Rekristallisation beschädigt werden. Das technische Problem des sicheren Einschlusses einer Flüssigmetallwand dürfte aber gewaltig sein.

Aber das ist immer noch nicht das Ende der technischen Probleme. So ist es als sehr kritisch anzusehen, dass radioaktives Tritium auf der Erde extrem selten ist. Auf der Erde gibt es nur 3,5 kg Tritium, das sich zu 99 % in den oberflächennahen Schichten der Ozeane befindet. Das würde niemals ausreichen, um Fusionsreaktoren zu betreiben, und natürlich wäre die Gewinnung extrem teuer. Die Alternative heißt künstliche Herstellung. Die Idee: Tritium soll aus Lithium gewonnen werden, das in die Reaktorwände eingebaut und durch den extremen Neutronenbeschuss erzeugt wird. Ob das in dieser Form technisch machbar ist, ist noch offen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es eine Vielzahl von Problemen gibt, die, wenn überhaupt, noch viele Jahre von einer Lösung entfernt sind.

22 Milliarden Euro teure Anlage in Südfrankreich

Die WissenschaftlerInnen hoffen auf den bereits erwähnten Fusionsreaktor ITER in Cadarache. Er wird allerdings keine kommerzielle Energie produzieren, sondern ist eine reine Versuchsmaschine, die technische Probleme lösen und den Weg für die weitere Erforschung von Fusionsreaktoren ebnen soll. Doch die Anlage ist gewaltig: Der Reaktor, ein so genannter Tokamak, soll einen Plasmaradius von 6,2 Metern haben. Die gesamte Maschine soll nach ihrer Fertigstellung 232.000 Tonnen wiegen. Der Bau begann 2007 und sollte 2020 abgeschlossen sein. Inzwischen geht man von einem Betriebsbeginn im Jahr 2035 aus. Er könnte sich aber auch bis in die 2040er Jahre verzögern. Auch die Kosten laufen völlig aus dem Ruder. Ursprünglich war von 5,45 Milliarden Dollar die Rede. Inzwischen haben sich die Kosten auf 22 Milliarden Dollar vervierfacht.

Fusionsreaktoren, sollten sie jemals realisiert werden, hätten gegenüber den heutigen Kernkraftwerken immerhin den Vorteil, dass sie nur radioaktives Material mit wesentlich kürzerer Halbwertszeit erzeugen würden. Dies würde die Anforderungen an ein Endlager deutlich reduzieren. Außerdem könnte es in einem solchen Reaktor nicht zu einer Kernschmelze kommen. Allerdings dürfte auch ein Fusionsreaktor nicht ganz unproblematisch sein. So dürfte es schwer sein, die Freisetzung von radioaktivem Tritium zu verhindern.

Kernfusion – wenn überhaupt – erst weit nach 2050

Eine Studie der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften vom August 2024 dämpft die Erwartungen an die Fusionstechnologie: Eine wirtschaftliche Nutzung sei nicht garantiert, heißt es darin. Noch fehlen grundlegende Technologien, um aus Fusionsprozessen Energie zu gewinnen: Die meisten WissenschaftlerInnen sind sich darin einig, dass es unwahrscheinlich ist, vor 2050 Energie aus Kernfusion gewinnen zu können. Das bedeutet aber, dass diese Technologie – wie von manchen Politikern gerne behauptet – keinerlei Beitrag zur Vermeidung der globalen Klimakrise leisten kann. Denn dies würde voraussetzen, dass die Menschheit in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts die Kohlendioxidemissionen auf nahezu Null reduzieren könnte.

Selbst wenn es eines Tages gelingen sollte, Energie aus Kernfusion zu gewinnen, ist keineswegs sicher, dass dies auch zu vertretbaren Kosten geschieht. So sprengt der im südfranzösischen Cadarache entstehende Forschungsreaktor ITER bereits heute jeden vernünftigen Kostenrahmen.
Niemand kann heute ausschließen, dass Strom aus einem Fusionsreaktor in der Größenordnung des britischen Kernkraftwerks Hickley Point liegen wird. Und der liegt heute bei rund 50 Cent pro Kilowattstunde. Zum Vergleich: Die heutigen Preise für größere Solar- und Windkraftanlagen liegen zwischen 7 und 5 Cent pro Kilowattstunde, Tendenz fallend. Selbst wenn man die Kosten für die zusätzlich erforderlichen Backup-Gaskraftwerke hinzurechnet, ist eine Stromversorgung auf Basis erneuerbarer Energien um ein Vielfaches günstiger als die Phantastereien mit neuen Atom- oder gar Fusionsreaktoren.

Merz: „Zwei große Forschungsreaktoren“ besucht

Doch CDU-Kanzlerkandidat Merz lässt sich von den kritischen Stimmen zur Kernfusion nicht beeindrucken. Er selbst habe bereits „zwei große Forschungsreaktoren“ besucht, die in Deutschland die Kernfusion erproben sollen: „Das sind Perspektiven für die Energieversorgung unseres Landes – und nicht einseitig Wind und Sonne“. Der parteiinterne Energiekongress der Union sah Deutschland gleich in einer Vorreiterrolle: „Der erste an das Netz angeschlossene Fusionsreaktor der Welt soll in Deutschland stehen.“ Bayerns Wissenschaftsminister Markus Blume (CSU) jubelte gar, der Durchbruch sei „in greifbarer Nähe“ und „keine Frage von Jahrzehnten“. Bei so grandiosen Technikexperten kann eigentlich nichts mehr schiefgehen …