Im Frühjahr 2023, als sich die ukrainische Armee für eine große Gegenoffensive rüstete, war die Zuversicht groß. Nach wichtigen militärischen Erfolgen der ukrainischen Truppen in den Regionen Charkiw und Cherson schickte sie sich an, weiteres Gebiet von den Besatzern zu befreien. Mechanisierte Kampfverbände sollten bis zum Asowschen Meer vorrücken, einen Keil zwischen die russischen Truppen im Süden und im Osten des Landes treiben und die Versorgung der 2014 von Russland annektierten Krim gefährden. Dies, so hoffte die Führung in Kiew, würde die Russen zwingen, weite Teile des ukrainischen Territoriums zu räumen.
Die ukrainische Armee schuf dafür neue Brigaden und ließ Zehntausende Soldaten ausbilden, viele davon im Westen etwa von der US-Armee in Bayern oder von der Bundeswehr in Niedersachsen. Die Ukrainer brachten zudem schwere Waffen aus NATO-Staaten ins Land, darunter deutsche Kampfpanzer vom Typ Leopard 2. Doch zu großen Geländegewinnen kam es nie. Die Russen hatten nach ihrer Niederlage in Cherson mehr als ein halbes Jahr Zeit, um sich auf den ukrainischen Angriff vorzubereiten. Sie hoben Schützengräben aus, legten zahllose Minen, stellten Panzersperren auf. Die gestaffelten Verteidigungslinien, die so entstanden, gehörten wohl zu den massivsten der Kriegsgeschichte. Die ukrainische Gegenoffensive, die in den ersten Junitagen begann, blieb schnell in den feindlichen Minenfeldern stecken. In fast sechs Monaten sind die Ukrainer nur wenige Kilometer vorgerückt. Der Blutzoll und der Verlust an Gerät, den sie für diesen geringen Geländegewinn zahlten, waren verheerend. Der Vorstoß auf der Hauptangriffsachse in der südlichen Region Saporischa ist inzwischen längst zum Erliegen gekommen. Die ukrainische Armee hat ihr militärisches Ziel nicht erreicht und ist nun in die Defensive geraten.
Während der ukrainischen Frühlingsoffensive hatten die westlichen Medien sich darauf versteift, die offenkundigen militärischen Schwierigkeiten der Ukrainer zu ignorieren. Wenn es kleine Erfolge auf dem Schlachtfeld gab, wurden diese in ihrer Bedeutung aufgeblasen. Sie wurden so dargestellt, als sei der entscheidende Durchbruch in greifbarer Nähe. Man war offenkundig bemüht, optimistische Stimmung zu verbreiten – wohl auch aus der Befürchtung heraus, dass bereits Zweifel in Teilen der Bevölkerung in den NATO-Ländern wachsen könnten, ob das weitere Anheizen des Krieges durch immer neue Waffenlieferungen Sinn macht. Also wurden, wohl wider besseres Wissen, die als notwendig erachteten „Erfolgsmeldungen“ produziert.
Das ließ sich aber irgendwann nicht mehr durchhalten. Zu offenkundig widersprach die Realität auf den Schlachtfeldern der in den bundesdeutschen Medien produzierten Fiktion. Ende November zeichnete dann auch die Tagesschau ein anderes, ein realistischeres Bild von der Front. „Wir sind am Ende, wir sind müde“, sagt da eine ukrainische Soldatin namens Olena Rysch, die mit ihrer Einheit in den Schützengräben bei Awdijiwka kämpft. Der Focus berichtete mittlerweile von über 100.000 gefallenen ukrainischen Soldaten allein bei der gescheiterten Frühlingsoffensive. Nun durfte sich dort ein Oberst Reisner vom österreichischen Bundesheer äußern: „Das Fass ist langsam leer, mehr haben wir nicht mehr. […] Es scheint, als habe Europa den Ernst der Lage nicht erkannt.“
Das sind Einschätzungen, die man noch wenigen Wochen vergebens im deutschen Mainstream suchte. Dass jetzt die Einsicht, dass sich der Krieg in einer Sackgasse befindet, von Politikern und Medien eingestanden wird, hat sicher damit zu tun, dass der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, Anfang November in einem Interview mit dem Economist unumwunden erklärte, der Krieg sei in eine „Pattsituation“ geraten. Ein „tiefer und wünschenswerter Durchbruch“ könne nicht erwartet werden. Laut Saluschny gibt es nur noch begrenzte Möglichkeiten, Fronttruppen mit frischen Einheiten auszuwechseln. Das aber wirke sich negativ auf die Motivation der Soldaten aus. Auch moderne westliche Ausrüstung nutzt nichts, so Saluschny, wenn sie von abgekämpften Einheiten dauerhaft bedient werden muss.
Präsident Selensky weigert sich dagegen zu diesem Zeitpunkt, einen Misserfolg der Gegenoffensive öffentlich einzugestehen. Er betonte, dass er selbst immer noch fest an einen Sieg der Ukraine über Russland glaube. Am 27. November berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland, der ukrainische Präsident habe die Militärführung seines Landes vor einem Einstieg in die Politik gewarnt. „Wenn man den Krieg mit dem Gedanken führt, dass man morgen Politik oder Wahlen macht, dann verhält man sich in seinen Worten und an der Front wie ein Politiker und nicht wie ein Militär“, sagte er in einem in der Nacht zum Dienstag veröffentlichten Interview für das britische Boulevardblatt The Sun. Es sieht so aus, als sei das Zerwürfnis zwischen politischer und militärischer Führung tiefgreifend.
Neben den unübersehbaren Differenzen zwischen dem ukrainischen Präsidenten und der Führung der ukrainischen Streitkräfte hat sich auch das Klima im Verhältnis zu den westlichen Partnern spürbar verändert. Bei seinem letzten Besuch in den USA wurde Präsident Selensky nicht mit Standing Ovations im Kongress hofiert, sondern musste vielmehr zur Kenntnis nehmen, dass die umfassende finanzielle und militärische Unterstützung durch die USA nicht mehr als selbstverständlich eingeordnet werden kann. Neben den zunehmenden amerikanischen Zweifeln am militärischen Erfolg der Ukraine spielte dabei wohl auch der Krieg in Nahost eine entscheidende Rolle. Dieser hat den Ukrainekrieg nicht nur aus den Schlagzeilen verschwinden lassen, sondern auch viele Abgeordnete haben ihr Interesse verloren.
Nach 20 Monaten Ukraine-Krieg ist im Westen hinter vorgehaltener Hand immer öfter von „Kriegsmüdigkeit“ die Rede. Viele Politiker in Europa sind offensichtlich zur selben Erkenntnis gelangt wie Walerij Saluschnyi: Unabhängig davon, wie viel Geld und Waffen „der Westen“ in die Ukraine pumpt – der Krieg kann seitens der Ukraine auf absehbare Zeit nicht gewonnen werden. Präsident Selenskyj scheint mittlerweile der Einzige zu sein, der immer noch glaubt, die Ukraine könne den Krieg militärisch für sich entscheiden.
In Washington werden im Establishment die Stimmen lauter, die auf Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau drängen. Bereits am 16. November hatten Eugene Rumer, ein ehemaliger Russland-Experte der US-Geheimdienste, und Andrew S. Weiss, ein Russland-Experte der US-Regierungen von George H. W. Bush und William Clinton, in einem Beitrag für das Wall Street Journal ausdrücklich einen Schwenk zu einer „Strategie der Eindämmung“ gegenüber Russland gefordert. Im Westen hätten sich die Regierungen allzu häufig „magischem Denken“ hingegeben, schrieben Rumer und Weiss: Man habe „auf Sanktionen gesetzt“, darauf, „Russland diplomatisch zu isolieren“, auf „eine erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive“, auf „neue Waffentypen“; ein Beispiel für Letzteres war die deutsche Begeisterung für die Lieferung von Kampfpanzern des Typs Leopard („Free the Leopards!“). Nichts davon habe zum Erfolg geführt, halten die beiden Experten fest; die Gegenoffensive sei gescheitert, die russische Wirtschaft stehe besser da als gedacht, Präsident Wladimir Putin werde von der Bevölkerung weiterhin unterstützt.
Mit Blick auf die Lage in der Ukraine haben am 17. November zwei weitere einflussreiche US-Experten auf der Website der einflussreichen US-Fachzeitschrift Foreign Affairs Überlegungen zur US-Strategie präsentiert. Richard Haass, ehemaliger Präsident des Council on Foreign Relations, und Charles Kupchan, Ex-Mitarbeiter des Nationalen US-Sicherheitsrats unter Präsident William Clinton, urteilen, Kiew und der Westen befänden sich „auf einem nicht länger haltbaren Pfad“. Die ukrainischen Kriegsziele – die Rückeroberung der Krim und des Donbass – seien „strategisch außer Reichweite, sicherlich für die nahe Zukunft und sehr wahrscheinlich auch darüber hinaus“. Zudem habe „die politische Bereitschaft, der Ukraine weiterhin militärische und wirtschaftliche Unterstützung zukommen zu lassen, sowohl in den USA als auch in Europa zu erodieren begonnen“. Die „grelle Diskrepanz zwischen den Zielen und den verfügbaren Mitteln“ steche ins Auge. Die Vereinigten Staaten müssten nun mit der Ukraine zusammenarbeiten, um „zu einer neuen Strategie überzugehen, die die militärischen und die politischen Realitäten widerspiegelt“. Unterbleibe dies, dann drohe Kiew langfristig die Unterstützung des Westens insgesamt zu verlieren, mit sehr weitreichenden Folgen, warnen die beiden Autoren.
Das Springer-Blatt Bild berichtete darüber, dass man seitens der US-Regierung anstrebe, dass der ukrainische Präsident letztlich „selbst zu der Erkenntnis kommen“ solle, dass es „so nicht weitergeht“. Selenskyj „soll sich aus freien Stücken an seine Nation richten und erklären, dass man verhandeln muss“. Dies gilt als unumgänglich, da es im Westen bislang immer hieß, man richte sich stets nach dem ukrainischen Willen und mache Kiew keinerlei Vorgaben.
Es ist jedoch außerordentlich schwierig für die ukrainische Regierung, Gespräche zu beginnen. Präsident Selensky und andere führende Beamte müssten ihre wiederholten Erklärungen revidieren, dass sie nicht mit Putin verhandeln werden und dass die einzigen akzeptablen Bedingungen für ein auch nur vorläufiges Abkommen der vollständige Rückzug Russlands aus allen Gebieten ist, die Russland seit 2014 besetzt hat. Ultranationalistische Gruppen sind bekanntlich leidenschaftlich gegen jeden Kompromiss. Die russische Regierung ihrerseits ist derzeit natürlich nicht an einem vorläufigen Waffenstillstand interessiert, da auch sie sieht, dass die Zeit auf ihrer Seite ist.
Die US-Administration verfolgt bei diesem Zureden durchaus ganz eigene Interessen. Es geht hier wohl auch und vor allem um einen gesichtswahrenden Rückzug. Denn schließlich hatte man in der Vergangenheit unzählige Male großspurig erklärt, das Ziel sei, Russland in die Knie zu zwingen. Mit dieser Zielsetzung sind die USA und ihre NATO-Partner offenkundig gescheitert. In ihrer eigenen Logik ist die jetzt ins Spiel gebrachte Lösung ein Zugeständnis des Scheiterns und der Schwäche – ein Eindruck, den sie in einer Phase des von ihnen selbst vom Zaun gebrochenen verschärften Kampfes um die Neuverteilung der globalen Einflusssphären auf jeden Fall vermeiden wollen.
Das Magazin Time berichtete auch von Zerwürfnissen in den ukrainischen Truppen. Vereinzelte Kommandeure hätten sich Vorrückbefehlen widersetzt, schreibt auch die Frankfurter Rundschau am 6. November. Aus ihrer Sicht läuft in der Ukraine auch ansonsten einiges aus dem Ruder. Zu Beginn des Krieges hätten sich noch viele ukrainische Soldaten voller Begeisterung in den Abwehrkampf gegen die russische Invasion gestürzt. Das hat sich inzwischen geändert. Selbst äußerst Ukraine-patriotische deutsche Medien sprechen von einer zunehmenden „Kriegsmüdigkeit“ im Land. Während es an der Front an gut ausgebildeten Soldaten mangelt, verstecken sich viele Männer vor den Einberufungsbehörden oder kaufen sich frei. Mit teils harschen Methoden werden andere auf den Straßen von mobilen Rekrutierungstrupps geschnappt und zur Armee geschickt. Wie die junge Welt am 4. Dezember in Berufung auf die Aussagen einer Militärärztin namens Anastassija Muzei berichtet, ist der Kampfwert der zwangsrekrutierten Ukrainer an der Front sehr niedrig. Sie habe einen neuen Soldaten, der sich geweigert habe, noch einen Schritt vorwärts zu machen, mit der Erschießung drohen müssen, damit dieser wieder aufgestanden und ihr nach „vorn“ gefolgt sei. Allerdings beklagt die Ärztin gleichzeitig das niedrige Ausbildungsniveau der Rekruten. Sie kämen völlig unvorbereitet an die Front und liefen Gefahr, sich mit den eigenen Waffen zu verletzen oder zu töten.
Nun scheint sich Widerstand auch unter den Ehefrauen ukrainischer Soldaten zu formieren. Am 4. Dezember wurde erstmals über offene Proteste von Ehefrauen ukrainischer Soldaten berichtet. Auch in anderen Städten scheint es Aktionen von Angehörigen der Soldaten zu geben, die eine Demobilisierung nach einem Jahr an der Front fordern.
In der ukrainischen Öffentlichkeit werden unter diesen Bedingungen erstmals die Stimmen laut, die für ein „Einfrieren“ des Konflikts entlang des jetzigen Frontverlaufs plädieren. Ein ehemaliger Medienberater Selenskijs, Olexij Arestowitsch, sagte in einem Interview mit der russischen Liberalen Julija Latynina, Grenzveränderungen wären an sich nicht tragisch. Es sei im Übrigen völlig aussichtslos, die ukrainischen Kriegsziele auf militärischem Weg erreichen zu wollen, wenn sich 4,5 Millionen ukrainische Männer vor der Einberufung „drückten“ und eine Brigade monatlich – nämlich 100 Mann pro Tag – aus der ukrainischen Armee desertiere. Arestowitch räumte zudem ein, dass die russophobe nationalistische Politik in Kiew die Motivation der russischen Soldaten zum Kampf gesteigert habe.
Laut einem Artikel in der jungen Welt schlägt jetzt selbst Selensky etwas andere Töne an. Demnach habe er nun angeordnet, im Krieg mit Russland zur Defensive überzugehen. Entlang der ganzen Frontlinie sowie der Grenze zu Belarus sollen mehrere Linien von Befestigungen errichtet werden, um mögliche künftige russische Angriffe ebenso zum Scheitern zu bringen, wie die russischen Befestigungen und Minenfelder in der Südukraine die ukrainische Sommeroffensive gestoppt haben. Selenskijs Befehl trägt auf der unmittelbaren Ebene der Tatsache Rechnung, dass die ukrainische Offensive unter hohen Verlusten bei minimalen Geländegewinnen gescheitert ist. Der Präsident räumte jetzt gegenüber der US-Nachrichtenagentur Associated Press ein, es sei leider unbestreitbar, dass die Ukraine die gewünschten Ziele nicht erreicht habe. Bei einem Auftritt vor Studierenden in der südukrainischen Stadt Mikolajiw wurde der Präsident expliziter: Es werde „sehr schwer“ werden, etwa den Donbass zurückzugewinnen, und zwar wegen der Haltung der dort lebenden Bevölkerung.
Damit hat auch die ukrainische Führung zumindest rhetorisch einen Wechsel von der Offensiv- zur Verteidigungsrhetorik vollzogen. In der Ukraine ist einiges ins Rutschen gekommen. Wirkte das Land bisher eher wie ein monolithischer Block, hat sich die Lage grundlegend geändert. Es gibt starke Zentrifugalkräfte, die sich immer mehr gegen den Präsidenten richten. Es scheint in dem Land jetzt vieles möglich, was vor einem halben Jahr noch undenkbar war.
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