Die Rücksichtslosigkeit der Kriegsführung beider Seiten offenbart sich rund um die größte europäische Atomanlage in Saporischschja. Sie besteht aus 6 Leichtwasserreaktoren sowjetischer Bauart. Alle Berichte deuten darauf hin, dass sich russische Armeeeinheiten zynischerweise seit Anfang März auf dem Kraftwerksgelände verschanzt haben. Russland und die Ukraine beschuldigten sich immer wieder gegenseitig, die Anlage zu beschießen. Es ist aber völlig unlogisch, warum die russische Armee auf ihre eigenen Soldaten im Kraftwerk schießen sollte. Die ukrainischen Behörden erklärten zudem, die Mitarbeiter der Anlage hätten vor Ort nur einen eingeschränkten Zugang zu Notfallanlagen. Und Mitarbeiter des AKW würden angeblich in einem Keller der Anlage gefoltert. Es ist von außerhalb schwer, den Wahrheitsgehalt all dieser Aussagen zu überprüfen. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass beide Seiten immer wieder Lügen verbreiten, um Druck aufzubauen und die internationale Öffentlichkeit zu erpressen. Sie spielen dabei Roulette mit dem Leben und der Zukunft von Hunderttausenden und der Bewohnbarkeit einer ganzen Region.
Das Kraftwerk besitzt vier Stromleitungen, die es mit dem ukrainischen Netz verbinden. Nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) waren Ende August davon bereits drei Leitungen zerstört. Am 25. August wurde dann auch noch die letzte Verbindung zum ukrainischen Stromnetz abgetrennt, was einen großflächigen Stromausfall zur Folge hatte. Die letzten beiden aktiven Blöcke schalteten daraufhin in den Notfallmodus. Einige Quellen meldeten, dass eine Notstromleitung zu einem benachbarten Wärmekraftwerk die Situation rettete. Laut der Washington Post erklärte dagegen Selenskyj am Donnerstag Abend, dass Dieselgeneratoren des Kraftwerks ansprangen und dass so eine Katastrophe abgewendet werden konnte. Einen Tag später gelang es den Technikern der Anlage glücklicherweise, wieder eine Verbindung zum ukrainischen Stromnetz aufzubauen.
Um die kritische Situation einschätzen zu können, muss man wissen, dass die Atomkraftwerke auch nach einem sog. „Abschalten“ der Anlage weiter auf eine sichere Stromversorgung angewiesen sind. In den Brennstäben kommt es weiter zu Zerfallsprozessen hochaktiver Radionuklide mit einer extrem hohen Wärmeentwicklung. Ohne ein funktionsfähiges Stromnetz und ohne den Einsatz der Pumpen des Kühlmittelkreislaufes käme es unweigerlich zu einer Kernschmelze. Dies würde große Mengen Wasserstoff freisetzen, was zu einer Explosion führen könnte, die Teile der Anlage auseinanderreißen würde. In der Folge würde ähnlich wie in Fukushima in 2011 hochradioaktives Material in die Umgebung geschleudert. Je nach Windrichtung würden dadurch weite Teile Osteuropas und auch Deutschlands verstrahlt und auf Jahrtausende unbewohnbar werden. Betroffen wären davon auch die fruchtbaren Schwarzerdeböden der Region, die für die Ernährung von Teilen der Weltbevölkerung von großer Bedeutung sind. Auch das Schwarze Meer würde durch radioaktives Kühlwasser stark vergiftet. Im Unterschied zu Fukushima, wo das radioaktive Abwasser in den Pazifik geflossen ist, ist der Wasserkörper des Binnenmeeres viel kleiner und die radioaktive Belastung würde sich viel schneller in Fischen und anderen Meerestieren anreichern.
Sollte es zu einer Kernschmelze in der Atomanlage kommen, müsste alles getan werden, damit das Material in irgendeiner Weise gekühlt wird und die Katastrophe nicht völlig unkontrollierbar wird. Das wäre nur auf den ersten Blick ähnlich wie in Fukushima. Allerdings befindet sich Saporischschja mitten im Kriegsgebiet. Wie man dann unter fortgesetztem Beschuss und ohne koordinierende staatliche Maßnahmen, ohne technische Ressourcen und ohne einen Stab von verantwortlichen TechnikerInnen die weiterlaufende Kernschmelze kühlen und stoppen könnte, ist völlig unklar. Die Folgen dürften deutlich dramatischer als in Fukushima ausfallen. Älteren Menschen in der Region dürften noch den Atomunfall von Tschernobyl im Jahr 1986 in Erinnerung haben. Damals zog eine radioaktive Wolke über ganz Europa und hunderttausende Menschen mussten rund um die Atomanlage evakuiert werden.
Der IAEA-Chef Rafael Nariano Grossi zeigte sich über die Situation im AKW extrem besorgt: „Fast jeden Tag passiert etwas Neues. Wir können es uns nicht leisten, noch mehr Zeit zu verlieren.“ Er wolle persönlich mit einer Expertenkommission zum Kraftwerk reisen und die Lage vor Ort bewerten. Doch bisher scheiterte eine solche Expedition, weil die Lage in der Kampfzone zu gefährlich ist. Russland stellte zudem die Bedingung, dass die Experten über besetztes Gebiet einreisen sollten, was aber die Ukraine wiederum nicht akzeptieren wollte. De facto ein unerträgliches Kleinklein beider Kriegsparteien.
Was tun in einer solchen Situation? Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es früher oder später in der Atomanlage Saporischschja zu einer Kernschmelze kommt, weil die Stromleitungen erneut gekappt werden. Das kann nur sicher verhindert werden, wenn alle Kampfhandlungen eingefroren werden und es zu einem Waffenstillstand kommt. Mindestens in einer großflächigen Zone rund um die Atomanlage. Doch Putin spricht nicht von Frieden. Und Selenskyj propagiert eine Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete einschließlich der Krim, was allerdings völlig unrealistisch ist. Und die USA wollen die Ukraine zu Russlands zweitem Afghanistan machen, um das Land militärisch und ökonomisch zu schwächen. In der Folge droht eine Verlängerung des sinnlosen Gemetzels bis weit in das nächste Jahr. Und damit hält die bedrohliche Lage rund um das AKW Saporischschja an. Es wäre eigentlich die Pflicht der deutschen Scholz-Regierung, einschließlich der Außenministerin Baerbock, alles zu tun, damit es mindestens rund um das Atomkraftwerk zu einem Einfrieren aller Kriegshandlungen kommt. Dafür müsste man sicher Putin Zugeständnisse machen, denn dessen Armee hält das Gebiet um die Atomanlage besetzt. Und man müsste sich auch gegenüber dem zu erwartenden Geschrei der Selenskyj-Regierung durchsetzen. Eine sofortige Beendigung der Kriegshandlungen in dem Gebiet wäre aber auch im Interesse der ukrainischen Bevölkerung in dem Kriegsgebiet, die sich momentan einem mörderischen militärischen Inferno ausgesetzt sieht.
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