Der Ausstieg aus den fossilen Energien: Für eine schnelle Absenkung des deutschen Erdgasverbrauchs
In der Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine, ist die Frage nach Alternativen zu russischen Öl- und Gasimporten brandaktuell geworden. Dies umso mehr, nachdem Russland seine Gasimporte nach Deutschland massiv zurückgefahren hat. Die deutsche Bundesregierung will ihre Orientierung auf Öl- und Gas trotzdem fortsetzen. Die globale Kimakrise scheint sie dabei nicht zu interessieren. Deswegen setzt sie lediglich auf Ersatzanbieter für die bisherigen russischen Öl- und Gasimporte. Eine Position, die sich diametral gegen die Klimabewegung richtet. In zwei Folgeartikeln wollen wir dagegen aufzeigen, dass es auch anders geht. Deutschland könnte danach fossile Energieimporte aus Russland und anderen Ländern auch kurzfristig reduzieren. Im ersten Teil wurde dargelegt, wie man mit schnell wirkenden, einfachen verkehrspolitischen Maßnahmen den Individualverkehr absenken und damit den Ölverbrauch reduzieren könnte. Dieser zweite Teil beschäftigt sich mit Schritten zur raschen Absenkung des Erdgasverbrauchs. Das setzt die Bereitschaft voraus, die Produktion von einzelnen kapitalistischen Branchen zurückzufahren, die real überflüssig sind. Es wird aufgezeigt, dass auch dies noch ein ökologischer Gewinn wäre.
1. Kraftwerke: Statt Erdgas wieder mehr Kohle verbrennen?
Anders als Mineralölimporte sind Gaslieferungen aus Russland deutlich schwerer zu ersetzen. Noch 2021 lag ihr Anteil bei 55 Prozent. Im ersten Quartal 2022 betrug ihr Anteil noch 40 Prozent. Hauptverbraucher von Erdgas sind die Industrie und die Haushalte. Insbesondere für die Industrie war es kostengünstig, immer mehr Prozesse auf billiges Erdgas aus Russland umzustellen. Und bei den Gebäuden hat die Regierung wahnwitzigerweise noch bis in die jüngste Zeit den Einbau von Gasheizungen gefördert. Es gibt mehrere ernsthafte Studien, die einen kurzfristigen Ausstieg aus russischen Gaslieferungen untersuchen. So die Brüsseler Denkfabrik Bruegel und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Bruegel betont in einer EU-weiten Betrachtung, dass mögliche Ersatzlieferungen von Flüssiggas (LNG) nicht vollständig ausreichen würden, um wegfallendes russisches Gas zu ersetzen. Diese Lücke würde allerdings in diesem Sommer noch gar nicht auftreten. Aber im nächsten Winter, wenn die Heizungen wieder voll hochfahren würden, gäbe es eine Fehlmenge von rund 20 % des sonst üblichen Gasverbrauchs. Dafür schlägt Bruegel eine Reihe von Sparmaßnahmen vor. Das DIW unter Claudia Kempfert untersucht spezifisch die deutsche Situation und kommt dabei zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Bruegel. Auch die DIW-Studie geht von der Notwendigkeit kurzfristiger LNG-Importen aus. Da aber der Gasverbrauch mittelfristig durch erneuerbare Energien ersetzt werden könnte, lehnt sie den Bau von LNG-Terminals in Deutschland ab. Außerdem betont das DIW, dass insbesondere die Chemie- und die Nahrungsmittelindustrie, beides Großverbraucher von Erdgas, ein hohes Einsparpotenzial haben. So könnten im Chemiesektor Vorprodukte, wie z.B. Ammoniak, genauso gut nach Deutschland importiert werden. Tatsächlich gibt es bereits Überlegungen der BASF, die in diese Richtung gehen. Als eine zentrale Maßnahme erachtet das DIW, den Gasverbrauch für die Stromversorgung drastisch zu reduzieren und dafür wieder alte Kohlekraftwerke in Betrieb zu nehmen. Allerdings nur vorübergehend, bis das Gasproblem gelöst ist. Eine Idee, die auch Habeck oder der Klima-Ökonom Ottmar Edenhofer propagieren. Unter Berücksichtigung dieser Maßnahmen kommt das DIW zur Schlussfolgerung, dass im Lauf des Jahres 2022 der Wegfall russischer Erdgasimporte kompensiert und die Energieversorgung im nächsten Winter gesichert werden“ könnte.
Aus der Sicht der Klimabewegung wäre die Inbetriebnahme alter Kohlemeiler aber äußerst problematisch, da die CO2-Emissionen von Kohle deutlich höher sind als die von Gas. Das wäre zudem ein Schlag ins Gesicht der Menschen, die sich im Rheinland oder auch in der Lausitz gegen die Zerstörung ihrer Dörfer durch Kohlebagger wehren. Habeck beruhigt zwar, dass er den Kohleausstieg weiterhin für 2030 anvisieren wolle. Aber wenn die bereits stillgelegten Kohlekraftwerke erneut wieder in Betrieb genommen worden sind, wird es politisch sehr schwer sein, sie wieder abzuschalten.
2. Kann der Gas- und Stromverbrauch der Industrie reduziert werden?
Es bleibt der Industriesektor, der große Mengen an Gas verbraucht. Aber bürgerliche Institute attestieren der Wirtschaft hohe Schäden, sollte es hier zu Verbrauchskürzungen kommen.
Allerdings gab es bereits erste Treffen zwischen der Bundesnetzagentur, dem Bundeswirtschaftsministerium und der Industrie, wo eine Reihenfolge unvermeidbarer Abschaltungen in der Industrie bei einer Gasversorgungskrise diskutiert wurden. Wie nicht anders zu erwarten, gab es ein Heulen, Klagen und Lamentieren. Der EON-Chef erklärte, dass es um „Existenzen“ gehen würde, wenn man Industriebetriebe für drei Monate abschalten würde. Wie sollte sich nun die Ökologiebewegung und die Linke zu möglichen Gasabschaltungen im Industriesektor verhalten? Bisher gibt es hier nur Schweigen.
3. Gasgroßverbraucher Chemiebranche: Produktionsrückbau ist umsetzbar
Wenn man die Gasnutzung verringern will, muss man zunächst einen Blick auf mehrere industrielle Großverbraucher werfen. Ganze vorne steht hier die die Chemiebranche. Sie nutzt einen Teil des Gases als Rohstoff für Chemikalien und einen anderen Teil als Brennstoff zur Herstellung von Strom und Dampf für chemische Prozesse. Dazu kommen noch riesige Mengen Erdöl und Strom, die dieser Industriesektor verbraucht.
Wie groß wären nun die volkswirtschaftlichen Schäden, wenn diese Branche auf einen Teil ihres Gases und auch Rohöls verzichten müsste? Die Chemieindustrie argumentiert, dass dann ganze Lieferketten zusammenbrechen würden. Auch nachgelagerte Anlagen würden ausfallen, da sie auf Produkte aus der Chemieindustrie angewiesen seien: So in der Automobilbranche, im Bausektor, in der Elektronik und der Pharmaindustrie. Die Klimabewegung und die Linke sollten sich von diesem Lamento nicht irritieren lassen. Sondern sie sollten fragen: Was stellen diese Branchen her? Und brauchen wir dies wirklich?
Um diese Fragen beantworten zu können, muss man einen Blick auf die hergestellten Chemieprodukte werfen. Das ist nicht ganz einfach, weil die Produktpalette extrem vielfältig ist. Aber es fällt schon auf, dass die Chemieindustrie im letzten Jahrzehnt immer 18 bis 20 Millionen Tonnen Kunststoffe hergestellt hat. Wenn man diese Menge mit den Mengenangaben des eingesetzten Öls und des Gases vergleicht, wird deutlich, wofür der größte Teil der energetischen und stofflichen fossilen Stoffe genutzt wird: Für die Herstellung von Plastik. Gleich an zweiter Stelle wird besonders das Erdgas für die Düngerproduktion eingesetzt. Die Menge der erzeugten Pharmazeutika oder der Gifte für den sog. Pflanzenschutz bewegt sich vergleichsweise eher in einem sehr geringen Bereich.
Aber wird der Kunststoff nicht dringend benötigt? Betrachten wir dazu die Einsatzgebiete: Allein 35 % gehen in die Produktion von Verpackungen, 22 % in den Bausektor und 12 % in den Automobilbereich. Zusammen also rund 70 % des Plastiks für diese drei Branchen. Das sollte die Gesellschaft aber hinterfragen. Insbesondere im Verpackungssektor werden Kunststoffe verschwenderisch für alles und nichts eingesetzt. So werden Plastikflaschen, für Shampoo, Wasch- und Reinigungsmittel oder Getränke genutzt. Nach einmaliger Nutzung landet der größte Teil im Müll. Allein mehrere hunderttausend Tonnen Plastikfeinstaub landen in Deutschland jedes Jahr in der Umwelt. Die Kunststoffe enthalten zudem Additive, die sich in ihrer Wirkung hormonähnlich verhalten. Sie werden in vielen tausend Tonnen freigesetzt. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Studien, die einen engen Zusammenhang mit entwicklungsbiologischen Störungen bei Kindern (z.B. Kreidezähne) oder bestimmten Krebskrankheiten belegen.
Dabei könnte man den Umlauf von Kunststoffprodukten mit einfachen Maßnahmen schnell reduzieren. So könnten die Konzerne darauf verpflichtet werden, Shampoos oder Getränke grundsätzlich in genormten Pfandbehältern zu vertreiben. Und im Bausektor sollte eher mit Naturstoffen gearbeitet werden, statt jede Fuge und jeden Spalt ganz billig mit Kunststoff zu verfüllen. Ökologisch denkende Architekten haben schon seit langem Gegenentwürfe präsentiert. Und Unmengen von Kunststoffe für Autositze, Reifen und Armaturen einzusetzen, würde sofort entfallen, wenn man den Individualverkehr drastisch reduzieren würde. Die kurze Betrachtung zeigt, dass es für einen Großteil des Gas- und Öleinsatzes in der Chemiebranche real keine gesellschaftliche Dringlichkeit gibt und dass es sogar ein Gewinn für die Umwelt wäre, wenn man auf die Herstellung von vielen Chemieprodukten verzichten würde. Habeck, das DIW aber auch viele Linke verschließen sich dieser einfachen Einsicht. Denn es würde auf eine schwere Konfrontation mit der mächtigen Chemiebranche hinauslaufe, wenn man den Kern ihrer Profitmaschine in Frage stellt.
4. Gasgroßverbraucher Papierbranche: Produktionsreduzierung ist machbar
Den Einsatz von Gas und Strom zur Herstellung unnützer Produkte findet man genauso in anderen Branchen. So in der Papierbranche, die als großer Energiefresser mit hohem Gasbedarf bekannt ist. Sie vermeldet seit Jahren eine steigende Produktion von Papier, Karton und Pappe für Verpackungen. Dieser Bereich macht mittlerweile fast 60 % der gesamten Produktion aus. Tendenz steigend. Eine wesentliche Ursache ist die dramatische Zunahme des Online-Handels. Zahlen belegen das. So wurden allein im Jahr 2020 3,6 Milliarden Pakete kreuz und quer durch Deutschland verschickt. Allein in der Vorweihnachtszeit, im November und Dezember 2021, haben die Paketdienste 440 Millionen Sendungen an Privatleute geliefert. Der Anteil von Möbeln, die online vertrieben werden, liegt mittlerweile bei mindestens 20 %. Dafür braucht es viel Papier und Pappe.
Neben dem Online-Handel stellen auch die unerwünschten Werbeprospekte, die wir täglich in unseren Briefkästen finden, ein ökologisches Schadensereignis dar. Laut der Deutschen Umwelthilfe (DUH) werden pro Jahr mehr als eine Million Tonnen nicht adressierter Werbesendungen verschickt. Dafür werden dann viele Milliarden Liter Wasser und fast zwei Millionen Tonnen Holz verbraucht.
Rechnet man die Auswüchse der Papier- und Pappe-Nutzung zusammen, dann wird offensichtlich, dass die Herstellung eines Großteils der Online-Verpackungen und der Werbeprospekte keinen gesellschaftlichen Nutzwert erbringt, sondern im Gegenteil für erhebliche ökologische Schäden steht. Warum man dieser Papier- und Pappe-Produktion nicht dauerhaft die Erdgas- und Stromlieferungen wegstreichen kann, erschließt sich einem gesunden Menschenverstand nicht. Letztlich sind es auch hier wieder die Profitinteressen des Kapitals, die gegenüber der Ökologie Vorrang genießen.
5. Gasgroßverbraucher Glasbranche: Rückbau statt Wegwerfprodukte
Auch die Glasbranche gehört zu den großen Energieverbrauchern. Wobei wieder große Mengen Erdgas eingesetzt werden. Die Hersteller von Glas meldeten sich in der Diskussion um mögliche Gaszuteilungen und Abschaltungen schnell zu Wort. Ihre Argumentation: Glas wird in großen Wannen geschmolzen und dann unmittelbar weiterverarbeitet. Eine Unterbrechung des Prozesses ist nicht möglich, denn wenn die Anlage erkaltet, verklumpt das Glas und macht die Wannen unbrauchbar. Das bedeutet, dass die Beheizung stets aufrechterhalten werden muss. Natürlich mit viel Gas.
Für eine Bewertung dieser Aussagen muss man allerdings erneut den Einsatzzweck hinterfragen. 60 Prozente der Produktion bestehen aus sog. Behälterglas, also im wesentlichen Getränkeflaschen und Gläser für Nahrungsmittel, z.B. Marmeladegläser oder Weinflaschen. Ob dies ökologisch sinnvoll ist? Sicher nicht, denn die Glasbehälter werden mit einem hohen Energieaufwand gefertigt, dann vielfach nur einmal eingesetzt, um danach gleich im Altglascontainer zu landen. Diese Verschwendung gesellschaftlicher Ressourcen wird dann von der Gesellschaft sogar noch als ökologisches Recycling gefeiert. Die Alternative kann nur eine allgemeine Pfandpflicht sein, bei einer gleichzeitigen Normierung der Behältertypen. Dann gäbe es z.B. nur noch einen Marmeladeglastyp, der sich nur durch das Papieretikett von anderen Sorten unterscheidet. Im Ergebnis hätte die Behälterglasbranche zwar weiterhin ihre Berechtigung, aber die produzierten Mengen ließen sich so deutlich reduzieren, was viel Energie – darunter auch viel Erdgas – einsparen würde.
6. Gründe für die Verschwendung fossiler Energien im Kapitalismus
Genauso wie bei der Chemie- oder der Glasbranche lassen sich auch in anderen Industriesektoren zahlreiche Produktsegmente finden, die ökologisch schädlich sind und die daher reduziert gehören. Generell gibt es zahlreiche Möglichkeiten, den Verbrauch von fossilem Gas und Öl schnell zu senken. Eine Verlängerung der Laufzeiten oder eine Weiternutzung von bereits stillgelegten Kohlekraftwerken ist dagegen abzulehnen.
Die hier dargelegten Möglichkeiten zur Einsparung von Gas und Strom würden auf eine bleibende Absenkung der Produktionsmenge hinauslaufen. Das würde die Kapitalanlagemöglichkeiten ganz massiv reduzieren. Von der Ampelkoalition sind derartige Antworten leider nicht zu erwarten, weil sie viel zu sehr den Kapitalinteressen verpflichtet ist. Die Linke und die Klimabewegung sollten dagegen ihre politische Antwort auf die ökologische Krise vertiefen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass wirklicher Klimaschutz ohne einen Rückbau der kapitalistischen Produktion nicht gehen wird.
Eine tiefer gehende Analyse zeigt weiter, dass die gesamte ökonomische Struktur dieser Gesellschaft auf Verschwendung von Energie, Ressourcen und Arbeitszeit ausgelegt ist. Warum das so ist? Der Kapitalismus sucht und schafft immer neue Anlagesphären für das sich vermehrende Kapital. Im Laufe der Jahrzehnte entsteht dann eine irrational verzerrte Ökonomie mit großen Sektoren, die de facto überflüssig und ökologisch schädlich sind. Zudem wird so das gesellschaftliche Arbeitsvolumen für nicht sinnvolle Tätigkeiten massiv aufgebläht. Eine ökosozialistische Strömung sollte daher zusätzlich zu einem geringeren Energie- und Ressourcenverbrauch auch allgemein verkürzte Arbeitszeiten der Beschäftigten in den Mittelpunkt ihrer Vorschläge stellen.
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