Der Verkehrssektor macht rund 20 Prozent der Treibhausgas-Emissionen in Deutschland aus. Er hat seit 1990 in Deutschland nichts zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes beigetragen. Null, Nix, Nada, Niente.
Die Kapitaleigner*innen der Autoindustrie haben eine mächtige Lobby und möchten die Verkehrswende zu einer reinen Antriebswende ummodeln: 36 Millionen E-Autos, tonnenschwere SUVs mit Riesen-Batterien. Egal aus welcher Diktatur die Rohstoffe bezogen und unter welchen Arbeitsbedingungen sie gefördert werden – moralische Erwägungen spielen natürlich keine Rolle.
Notwendig ist die drastische Umgestaltung des öffentlichen Raums, weg vom Auto- und LKW-Verkehr hin zu Schienen-, Rad- und Fußverkehr. Der PKW steht 23 Stunden am Tag still, bewegt sich mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 30-40 km/h und nimmt bis zu 60 Prozent des Straßenraums in Beschlag. Der motorisierte Individualverkehr (MIV) verursacht im Jahr an die 3.000 Todesfälle, über 300.000 Verletzte und kostet die Gesellschaft insgesamt 141 Milliarden Euro.
Die massiven jährlichen Steuersubventionen für den MIV müssen in den öffentlichen Verkehr gesteckt werden.
Allein die Steuersubvention für Diesel kostet jedes Jahr 8,5 Milliarden Euro, das Steuerprivileg für Dienstwagen 5,1 Milliarden Euro. Schon mit diesen über 13 Milliarden Euro könnte bundesweit der Nulltarif ausfinanziert werden, der letztendlich das Ziel sein muss. Dies sind nämlich genau die Ticket-Einnahmen aller Verkehrsverbünde. Erst recht könnte das 9-Euro-Ticket weiter finanziert werden. Der Nulltarif brächte sogar zusätzlich noch Einsparungen: bei Verwaltung, Buchhaltung, Fahrgastkontrollen, der Anschaffung von Fahrkartenautomaten und deren Wartung. Etliche Ausgaben fielen weg und viele Mitarbeitende könnten – bei Entgeltfortzahlung – für diejenigen Bereiche umgeschult werden, in denen Personal fehlt: Fahrer*innen von Bussen und Bahnen, Techniker*innen, Wartungs- und Servicepersonal beim Fahrbetrieb.
Das Nadelöhr beim 9-Euro-Ticket ist vor allem der sogenannte Schienenpersonennahverkehr (SPNV) auf DB-Regionalzügen und S-Bahnen, für den die Länder zuständig sind und dafür sogenannte Regionalisierungsmittel vom Bund erhalten.
Dem Engpass könnte abgeholfen werden. Der Verband der Verkehrsunternehmen (VDV) hat in einer großen Studie 2020 festgestellt, dass rund 4.000 Kilometer stillgelegter Bahnstrecken nach wie vor als Bahntrassen gewidmet sind, selbst dort wo Radwege darauf errichtet wurden. Sie könnten relativ schnell und ohne großen bürokratischen Planungs- und Genehmigungsaufwand reaktiviert werden.
Damit könnten 291 Kommunen mit 3 Millionen Einwohner*innen wieder an das Streckennetz angeschlossen werden (siehe Karte). Die Studie listet die Strecken akribisch nach Bundesländern auf. Für NRW sind das 60 Strecken mit 30 Mittelzentren. Dies wäre ein großer Qualitätssprung. Berufspendelnde und Anwohner*innen ländlicher Regionen um die Städte herum wären viel besser angeschlossen und der Umstieg vom Auto auf den SPNV würde erleichtert.
Die notwendigen Gelder für Investitionen in den Ausbau des ÖPNV und des Regionalverkehrs könnten durch Umwidmung der Finanzmittel weg vom Auto bereitgestellt werden – politischen Willen vorausgesetzt. Eine Studie der HTW Berlin zeigt auf, dass jährlich rund 30 Milliarden Euro in den Ausbau und Unterhalt von Straßen fließen, davon allein 13 Milliarden für Aus- und Neubau. Der Bundesverkehrswegplan 2030 sieht 850 neue Autobahnkilometer vor, und das im Land mit dem dichtesten Autobahnnetz weltweit. Diese Projekte müssen sofort gestoppt und die Mittel umgeschichtet werden.
12 Milliarden Euro jährlich könnten vom Luftverkehr abgezogen werden, wenn die Steuervergünstigungen für Kerosin und die Befreiung von der Mehrwertsteuer bei internationalen Flügen aufgehoben würden.
Diese enormen Summen könnten jedes Jahr für Investitionen in ÖPNV und SPNV eingesetzt werden, zur Erhöhung der Regionalisierungsmittel für den SPNV und mehr Geld für den ÖPNV. Der Bund muss zudem das Tarif-Gewirr und die verschlungenen Pfade der Finanzierung aufbrechen. Selbst der Bundesrechnungshof kritisiert den Finanzierungs- und Förderdschungel beim ÖPNV und SPNV und fordert einheitliche bundesweite Regelungen in einem ÖPNV-Gesetz.
Die notwendige Verkehrswende ist auch ein Arbeitsbeschaffungsprogramm. Das E-Auto sichert ohnehin nicht die gleiche Anzahl Jobs bei Autobauern und Zulieferern. Dort muss vielmehr die Umstellung der Produktion in Gang gesetzt werden. Eine Verkehrswende braucht mehr Schienen, Busse, Straßenbahnen, Schienenfahrzeuge, Weichen, Signaltechnik, mehr Personal in Fahrdiensten, Technik und Wartung. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat errechnet, dass so hunderttausende neuer Arbeitsplätze entstehen könnten.
Umschulung und Weiterbildung der Beschäftigten für die neuen Produktionszweige müssen bei Entgeltfortzahlung und Beschäftigungsgarantie geschehen, unter Beteiligung und Kontrolle der Beschäftigten, Betriebsräte und Gewerkschaften, damit gute und tariflich abgesicherte Arbeitsplätze in den zukunftsträchtigen Verkehrsbereichen entstehen.
In diesem Sommer machen Millionen Menschen die Erfahrung mit einem einfachen und kostengünstigen ÖPNV. Und das bundesweit, ohne den Tarif-Dschungel innerhalb und beim Übergang zwischen den zahlreichen Verkehrsverbünden in Deutschland (s. Karte). Daran sollten wir anknüpfen unter dem Motto: 9 Euro für immer – Sitzplätze für Alle!
Natürlich geht es dabei nicht nur um den Preis, sondern auch um den Ausbau. Diese Erfahrung wird auch gerade gemacht, das müssen wir mit aufgreifen. Aber der Druck auf raschen Ausbau und massive Investitionen bleibt sicher nicht bestehen, wenn anschließend die Preise wieder hochgehen. Die Verkehrsbetriebe planen im Anschluss bereits weitere Erhöhungen, schon wegen der steigenden Energiekosten.
Ein 9-Euro-Ticket macht auch sogenannte Sozialtickets überflüssig – die meisten dieser kommunalen Tickets sind recht wenig sozial und kosten zwischen 30 und 40 Euro im Monat. Auch ein 365-Euro-Ticket ist für Beziehende von Sozialtransfers oder geringem Einkommen nicht oder schwer bezahlbar, schon gar nicht auf einen Schlag. Das wird gerne ausgeblendet, wenn man über volle Züge die Nase rümpft oder meint, der Preis sei nicht so wichtig wie der Ausbau.
Der Kampf für ein preiswertes Ticket – als großer Schritt zum Nulltarif – ist auch ein sozialer Beitrag zur Inflationsbekämpfung und bezahlbaren Mobilität gerade für die Menschen am unteren Ende der Einkommensskala. Schon deswegen sollten sich Gewerkschaften, Sozialverbände, die LINKE und Linke dafür stark machen. Gemeinsam mit Mobilitätswende-Organisationen, Fridays for Future, Attac und anderen könnten sie sich über den Sommer in einer Kampagne zusammentun und millionenfachen Druck auf preiswerten und qualitativ guten Nah- und Regionalverkehr organisieren.
Erstveröffentlichung: https://www.sozialismus.info/2022/07/9-euro-fuer-immer-sitzplaetze-fuer-alle/
Menü
Newsletter
Bleib auf dem aktuellen Stand und trage Dich in unserem Newsletter ein.